An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Heft.
Also gut, wenn die Natur nicht so wichtig ist, dann liebe ich halt Mineralien.
Und wenn mich gar nichts mehr interessiert, dann liebe ich halt mich selber
Unter der Woche fuhr Tom jetzt täglich nach Spittelreith. Er stand früher auf als Elisa. Machte heißen Ingwertee und stellte ihn ihr ans Bett, er selbst trank ein paar Schlucke Nescafé. Essen konnte er morgens nichts.
Die Tunnels der Autobahn, die an diesem Teilstück bereits befahrbar waren, ängstigten ihn. Er nahm immer die alte Bundesstraße, obwohl es länger dauerte. Er wollte auch nicht auf einer Straße fahren, gegen die er so lange protestiert hatte. Die Baufirma veröffentlichte jüngst einen Artikel, in dem die Personen aufgelistet waren, die auf der Bundesstraße durch die Verzögerung des Autobahnbaus bei Verkehrsunfällen verunglückt oder sogar zu Tode gekommen waren. Tom hatte mit Reinhold darüber diskutiert. Sie waren zu keinem Ergebnis gekommen, denn es waren Hypothesen, von denen sie ausgehen mussten, und Reinhold war durch seine Position als Mediator zwischen den Fronten gespalten. Aber er argumentierte gut in beiden Richtungen und blieb vollkommen emotionslos dabei.
Reinholds pragmatische Art sprach Tom an. Er hatte vieles, was Tom fehlte: Konsequenz und Effektivität. Er schien seine Ziele zu erreichen. Die Wohnungssuche hatte Reinhold wieder aufgegeben, er fühlte sich zunehmend wohl im Lamanderhaus. Tom freute sich darüber, der Typ tat ihm schließlich doch ganz gut, war ein netter Kerl, vielleicht hatte er ihn falsch eingeschätzt. Sie freundeten sich an, spielten auch einmal eine Partie Schach oder, wenn Mikram zu Besuch war, Whist. Reinhold war, trotz schmutziger Baustellen, immer adrett gekleidet, Anzug, kariertes Hemd und Krawatte, und legte beides erst zum Schlafengehen ab. Seltsam, dachte Tom, sogar das gefiel ihm an dem kleinen, drahtigen Mann, der seinen Schädel kahl rasierte, wie es jetzt Mode war. Elisa verwöhnte die beiden abends mit Vor- und warmen Hauptspeisen, so vollständig hatte sie in letzter Zeit selten gekocht. Es war eine stille Ordnung eingezogen am Bach.
Der liebe Gott ist eine Signalanlage, Stromverteiler. In ihm entsteht Spannung, ein großer Druck. Der liebe Gott ist Magnetismus. Er ist ein Meer, in dem man auch die Liebe spürt. Aber das ist keine künstliche Liebe und keine heilige Liebe, sondern Naturliebe – Sexliebe, Sexschwuler. Wo man spürt, das Meer will mich küssen
Tom fuhr vom Lamandergraben nach Spittelreith, von Spittelreith zurück in den Lamandergraben. Viel Zeit zum Nachdenken. Kühe weideten, Kühe käuten wieder, sie schissen und urinierten in hohem Bogen und wenn es regnete, schauten sie alle in eine Richtung. An den Zäunen war das Blinken der Elektroanlagen zu sehen. Tom freute sich auf Johannes. Der Bub war sehr allein. Mitunter sank er in tiefe Traurigkeit, wenn er seine Andersartigkeit wahrnahm. Zu seinem Integrationslehrer hatte er Zutrauen gefasst. Er war dabei, sich selbst die Welt zu definieren, Tom staunte, er war tief bewegt von diesem Kind. Fast täglich waren dessen Erklärungsversuche dramatischen Schreiattacken unterworfen, in denen Johannes seine Theorien verwarf und widerrief.
Gott ist eine Evolution der Natur, so begreif ich das
Der Pfarrer ist ein Zwinger, der sagt: He Burli, du sagst, dass Gott die Natur geschaffen hat, sonst drisch i dir eine
Die Orte zogen vorüber, die Kühe, die Verkehrszeichen und die Wallfahrtskirchen. Mit Reinhold war Tom unlängst bei der berühmten Schutzmantelmadonna in dem gelben Kirchlein auf dem Wiesenklapf gewesen, in dem Marlen Haushofer im weißen langen Kleid getraut worden war, schwanger von einem anderen Mann. Die Madonna füllte den gesamten Hochaltar aus, sie war schön und glänzte in braunem, glattem Holz, ihre Locken fielen bis zur Taille, lasziv schützte sie Königsfamilie und Volk. Die stille, vergessene Maria im zugigen Gang der Klosterkirche war Tom näher. Reinhold und er hatten ein „Gegrüßet seist Du Maria“ gebetet und dann im Gastgarten ein kühles Bier getrunken. Reinhold redete schnell. Er war eloquent. Er überlegte nicht lange, er wusste, was er zu sagen hatte. Das war Tom zuwider, aber zugleich gefiel es ihm. Reinhold wusste nicht, was Verlorenheit war, aber er wusste, was der nächste Autobahnzubringer kostete, wann er fertig sein musste und wie hoch das Pönale war. Reinholds linkes Auge war kleiner als das rechte, das gab ihm mitunter einen schiefen Blick. Sein Lachen begann mit einem
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