An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Stadt. Vielleicht hat Robert Allen Zimmerman ihn so in die Wiege gelegt bekommen, dieses schmächtige Kind, das später, in weißen Cowboystiefelchen und Cowboyhut, auf den Schultern des Onkels eine Wahlrede Harry Trumans hören wird, im Leif Erickson Park in der Stadt Duluth an den steilen Hängen. Dieses asthmatische Kind, das aus einem Fenster im Hinterzimmer von Großmutters Wohnung – sie hatte nur ein Bein und kam aus Odessa – den Lake Superior gesehen hat, unheilvoll und bedrohlich, in der Ferne zogen Eisenfrachter und Schleppkähne vorbei, und von überall ertönten Nebelhörner … Als junger Mann wird dieser Robert Allen nach einem effektvollen Namen suchen, Dylan Thomas, David Allyn, Robert Allyn, Robert Dylan oder Tom Allyn, und sich schließlich für „Bob Dylan“ entscheiden und in seinem ersten großen Interview gleich seine Eltern in der Kleinstadt Hibbing verleugnen, um sich eine abenteuerliche Biografie als Findel- und Waisenkind, Tramper und Gelegenheitsarbeiter des Mittleren Westens zu erfinden.
Tom ist kein Selbsterfinder, er ist immer derselbe, es schleudert ihn durch das Leben. Er dreht den Knopf seines Autoradios auf höchste Lautstärke, legt Dylans CD Empire Burlesque ein, fährt am Nordufer des Sees entlang, um den es massive Kämpfe wegen der Fischrechte der Indianer und den Ausbauplänen der Wirtschaftsmagnaten gab, aber davon ist hier auf dieser Traumstraße nichts zu spüren, Tom singt mit, singt …
Come baby, hold me, come baby, take me, I would be satisfied / Come baby, hold me, come baby, help me, my arms are open wide / I could be unraveling wherever I’m traveling, even to foreign shores / But I will always be emotionally yours
… ach, da wäre er ja wieder dort, wo er herkommt, wovor er geflohen ist, aber jetzt scheint ihm alles nicht so schwer wiegend, er fährt dahin mit seinem Ford Pick-up, die aufgesetzte Schlafkabine schaukelt ein wenig, er hat das Gefühl, sich selbst woandershin zu schaukeln, er fährt und singt und bekommt jetzt Lust auf etwas, das Parmenides eine Metamorphose nennen würde, und es wird immer einsamer, kurviger, makelloses Blau des Himmels, dunkles Blau des Superior, noch dunkleres Blau der unzähligen kleinen Seen inmitten endloser Fichtenwälder. Driften von blau-lila Lupinen, orangefarbenen Spitzwegerichgewächsen, gelbe Schmetterlinge über dem Schwarz des Asphalts. Alle hundert Meilen vielleicht eine Tankstelle und eine Trading Post. Mittags rastet er an einem der Waldseen, für eine Stunde mietet er ein Kanu, paddelt die Schattenlinie zwischen Dunkelgrün und hellem Grün entlang.
Sommersonnenwende am Superior.
Die Szenerie ist entworfen: ein Mann, ein Auto auf einem Hügel, von Laubbäumen umstanden, riesige, runde Felsen zum Ufer hinunter, Glitzerpunkte im Granit. Die Bewegung: Schwimmen. Kaltes Wasser. Kleine, harte Wellen in die Augen. Nebelbänke kommen über die Bucht, schnell, vergehen wieder. Die Felsen sind noch warm, alles ist groß und wild und auf dem Grill liegt das Steak.
Eine Dose Budweiser in der Hand, riecht Tom den Sommer. Kein Laut und kein Geläut. Nur er, einschlafender Wind, der See, die Sehnsucht. Zehn Uhr abends vorbei, aber noch taghell. Im Osten ist der See ein silbernes Blatt, im Westen ein goldenes Bracelet, so golden wie damals mit ihr unter dem Ölbaum, über dem Meer, in der lichtzerbrechlichen Stunde.
Sommersonnenwende. Ab jetzt geht es in ein abnehmendes Sonnenjahr. Aber die Wärme kommt erst. Das Schöne kommt noch. Nach Mitternacht steht der Mond als Laterne über dem See. Er streut Flackersterne in das Wasserschwarz, kurzlebig. In der Ferne röhrt von Zeit zu Zeit ein Truck, einer tutet wie ein Schiff, lange und laut.
Tom wendet die verkohlten Erdäpfel im niedergebrannten Feuer.
Rote Glutnester im Rund der weißen Asche.
*
Tag und wieder Abend. Es ist heiß und windig, die kanadische Fahne spielt mit ihrem Ahornblatt. Der Pfeifevogel, dessen Artgenossen ihn schon die ganze Reise begleiten, ist wieder da.
Morgen ist es nicht mehr weit bis Duluth.
Morgen liegt der Lake Superior müde und fahl in seiner eiszeitlichen Mulde. Schiefergrauer Himmel. Plötzlich Sturm. Niederprasselnder Regen. Der See wie weggewischt im weißen Vorhang des Wolkenbruchs. Grand Portage. Thunder Bay. Dylans Rolling Thunder Tour . Tom sucht Schutz auf einem Parkplatz, die Wassermassen legen die Scheibenwischer lahm. Bäume biegen sich, Plakatständer krachen auf die Autos. Bis zu drei Meter hoch können die Wellen in den
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