An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Winterstürmen werden, die Luft hat 20, 30 Minusgrade, die Stürme fegen über den großen , schwarzen, rätselhaften See , so beschreibt Bob Dylan seine Erinnerungen an Duluth, Schiffe aus Südamerika, Asien und Europa legen an und ab, und das tiefe Rumoren der Nebelhörner packte einen erbarmungslos im Genick , man sah die Schiffe oft nicht im dichten Nebel, aber man wusste, dass sie da waren, denn ihr schwerer Donner grollte wie Beethovens Fünfte – zwei tiefe Töne, der erste lang und dunkel wie ein Fagott. Nebelhörner klangen nach großen Verheißungen. Die mächtigen Schiffe kamen und fuhren davon, eiserne Ungeheuer aus der Tiefe – Schiffe, die alle anderen Spektakel in den Schatten stellten. Für mich als schmächtiges, introvertiertes, asthmakrankes Kind war das Geräusch so laut, so allumfassend, dass ich es im ganzen Körper spüren konnte und mich förmlich ausgehöhlt fühlte. Da draußen war etwas, das mich verschlingen konnte.
Unter der Innenbeleuchtung seines Fords liest Tom in Bob Dylans „Chronicles“. Keine Nebelhörner zu hören, nur das Trommeln des Regens. Dylans Erinnerungen an Duluth und den Lake Superior sind stark, aber marginal, es waren nur die ersten Eindrücke eines Kinderlebens, später war der Ort nur Besuchsnachmittag bei Verwandten. Hibbing war die Stadt, in der er aufwuchs, nicht weit entfernt, aber dennoch ganz anders, in der Iron Range an der kanadischen Grenze, politisch unbeständig, wirtschaftlich am Ende, brachliegende Eisenerzminen, verbarrikadierte Hüttenwerke, verlassene Farmen, ein Konglomerat von Sozialisten und Kommunisten, provinzielle Ödnis. Ein irres Klima mit prachtvollen Herbsttagen, Blizzards im Winter, in denen man erfrieren konnte, und 40 Grad heißen Sommern mit Schwärmen von Mücken. Eine Kleinstadt, aus der er wegwollte, nichts wie fort, nur die Erinnerungen nahm er mit in sein späteres Leben, Eishockeyspielen, Schwimmen in Flüssen und Fischteichen, Feuerwerk am 4. Juli, Stoßstangenfahren, Aufspringen auf die fahrenden Eisenerzzüge, Schießen mit den selbstgebastelten Gummigewehren auf die vollgefressenen Ratten in der städtischen Mülldeponie …,
die Ratten im Lamanderhaus, dachte Tom, sie werden sich vermehren, im Keller, im Gewölbe des Vorhauses, in der einstigen Speisekammer, in der es immer noch nach Geselchtem roch, nach Butterfass und Käselaiben,
fortgehen aus dem Dorf,
ja, fort von einer stucküberladenen, goldenweißen Jubelkirche,
von den Wiesen des Grillparz,
von Anjuschkas Kreuzesgraben,
von einem Haus in der Beuge des Baches,
fort von einem Verandabett über dem Lamandergrund.
Er, Dylan, ging fort und wurde der Sänger der endlosen Straßen durch ein endloses Land, der Großstadttypen und der kleinen Farmer, der Huren und der Holzarbeiter, der Outlaws und der schwarzen Straßenfeger. No direction home – Verdammnis und Erlösung, Vietnam, Rebellion und Jesus Christ, Gift sprüht er auf die world of wolves and thieves , den Kapitalismus, die Korruption und die verkommene, selbstgerechte Politik, die keinen Platz mehr lässt für die Liebe. Die Traditionen des alten Amerika in Blues, Country, Folk und Soul, mit ihren eigenen Mythen, Verherrlichungen und Massakern; und dann Rimbaud, Bert Brecht, Allen Ginsberg und libertäre Utopien – wie soll er da an einen See denken oder an seinem Ufer stehen, da kämpft einer um sein Leben anderswo, um das Überleben seiner Zeit und die vielen Doppelgänger in ihm selbst: I fought with my twin / The enemy within.
Und was soll er, Tom, eigentlich in Duluth?
Was will er hier, der flüchtige Dylan-Hero aus dem Dorf?
Für den der Minstrel aus Minnesota mehr ist als ein Vorbild? Tom ist kein simpler Epigone. Er fühlt nur die Biegungen und Brechungen des anderen in sich. Der Große ist die stille Sprache seines kleinen Ich. Dylan hat in seinen Songs einfach nur mit der Stimmgabel den Ton seiner, Toms, eigenen Melodie getroffen.
Das ist alles. Aber es ist genug.
Das trägt er in sich.
Braucht er dazu Duluth?
Tom lehnt sich zurück in seinem durchgesessenen Fahrersitz, schaut in das Strömen. Bäche rinnen weg, wohin, ist nicht zu sehen.
Fort von Duluth.
Dort ist die Spur von Bob Dylan nicht deutlicher als anderswo, Tom könnte sie vielmehr überall finden, wo Menschen leben und leiden und lieben und geschlagen sind, überall, ja, überall auf der Welt und in diesem Amerika, nicht nur in Minnesota, nicht nur in Duluth, wieso ist er überhaupt auf die Idee gekommen, nach Duluth zu
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