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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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nicht.
    *
    Tom buchte einen Flug.
    Er nahm eine gut bezahlte Stelle als Akkord-Bodenleger an, ein Wellnesshotel sollte in drei Wochen eröffnet werden. Er arbeitete mit einem Kollegen bis zu sechzehn, siebzehn Stunden, fast Tag und Nacht. Um Zeit zu sparen, schlief er meist in den Zimmern, in denen er gerade arbeitete. Das Hotel stand in jenem Ort, durch den er einst mit Elisa gefahren war, als die Langläufer die Loipe entlanggelaufen waren, ohne Beine im Nebel.

31
    Mitte Juni flog Tom nach Toronto.
    Es war ein Jahr mit Endzahlen, mit denen man hätte spielen können, mit 007 oder mit der Sieben allein als magischer Zahl, aber er pfiff auf James Bond und die Magie und nicht einmal im entpersönlichenden Brummen der Motoren war ihm nach Spielen.
    Er traf Xaver, den Freund aus der ersten wilden Lamanderzeit, der jedoch bald darauf nach Kanada ausgewandert war. Über die Jahre hatten sie nur losen Kontakt gehabt, aber die Freude des Wiedersehens und des Redens über frühere Zeiten war groß. Sie verbrachten einen heiteren Abend, Xaver zeigte Tom die Sehenswürdigkeiten der Stadt, die Harbourfront und Downtown, sie gingen gut essen und am nächsten Tag vermittelte Xaver dem Freund günstig einen Pick-up mit aufsetzbarer Schlafkabine, der in der Speditionsfirma, in der er arbeitete, gerade nicht gebraucht wurde. Spätestens in fünf Wochen müsste er das Auto zurückgeben.
    Toronto.
    Ohne sie .
    Sie hatten es sich anders gedacht.
    *
    Am späten Vormittag schon verlässt Tom die Stadt.
    Hier hält ihn nichts.
    Diese Stadt ist besetzt mit Träumen, die nicht in Erfüllung gingen.
    Er möchte nach Duluth am Westende des Lake Superior.
    Hier ist Bob Dylan geboren.
    Dort will er hin.
    Seine Gitarre hat er mit.
    Er möchte ihm, sentimentale Anwandlung, ein Lied singen.
    Tom kauft sich den neuesten Rand McNally, den besten Straßenkarten-Atlas, den er kennt. Er wird nicht über Detroit und Chicago fahren, sondern zwischen Georgian Bay und Lake Huron zunächst über die Bruce Peninsula nach Tobermory, von dort mit der Fähre weiter, am Nordufer den Lake Superior entlang und dann südwestlich bis zu seinem Ende in Duluth. Die Namen haben etwas Klingendes, sie ziehen ihn stärker an als die, die jeder kennt. Reisen ist suchen. Flüchten ist flüchten. In einer riesigen Trödelhalle an der Straße kauft er alles, was er braucht, Schlafsack, Gaskocher, etwas Geschirr, Grundnahrungsmittel, eine rot-schwarz karierte Holzfällerjacke. Die Nächte sind kalt.
    Erste Nacht am Cyprus Lake. Es ist spät, aber immer noch taghell. Es sind die Nächte vor Sonnenwende. Lange bleibt er am Ufer, Rauschen der Zedern, Rascheln der Espen. Hinter sich lassen: die elf oder zwölf Millionen Menschen, die im Golden Horseshoe zwischen Toronto und Detroit leben, eine ursprüngliche Seen-Landschaft indianischer Stämme, die zur Megacity geworden ist. Hinter sich lassen: das Ferne der letzten Monate, das näher, bedrängender ist als das Nahe hier. Hinter sich lassen. Er übt. Vor ihm glitzert der See. Sonnenfleckenläufer bis ins Gras, Lichtwellenlinien über den Sand. Ein paar Wildgänse am Himmel.
    Es ist Morgen, noch kühl. Heißer Nescafé, tiefe Atemzüge unter den Föhren.
    Da hört er sie schon von weitem, er läuft zum See hinunter, sie donnern knapp über die Wipfel der Bäume, fliegen in hohem Tempo, schreien, laut und verwildert, manchmal ist es wie Bellen, neue Schwärme, Aberhunderte Wildgänse sind ein einziges, schnelles, panisches Geschrei, sie fliegen die schönsten Figuren und Formationen, himmelwärts und erdtrunken, fliegen Spitzen und Wellen, teilen sich, rotten sich zusammen, fliegen über alle Himmel und noch, als sie längst Richtung Georgian Bay aus dem Sichtfeld sind, hört man ihre Schreie, Urlaut der Kreatur.
    Winzig ist der Lamanderteich.
    Auf der Überfahrt mit der Fähre auf die Manitoulin Inseln ist Sturm. Regen, schade um das Blau. Entlang des Lake Huron klart es auf. Von der Begegnung der beiden Seen – Huron und Superior – bei Sault Ste. Marie ist nichts zu sehen, alles ertrinkt in Straßen, Autohäusern, Hardwareshops und Supermärkten.
    Und am nächsten Morgen: der Lake Superior.
    Die Native Americans nennen ihn Gitche Gumee .
    Wie ein Meer zu seiner Linken.
    Ruhig und blau.
    Sehnsuchtsbilder unterliegen oft dem Störrischen der Realität: der See, dieses Meer, war schön. Schön und blau, aber nichts weiter. Vom anderen Ende, von Duluth aus, liegt er auf der Landkarte wie eine riesige Sprechblase östlich der

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