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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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Zwingenden.
    Sie sind unterwegs. Schon Tage. Reden, schweigen. Beides ist gut. Schneller Sex im Auto, irgendwo, irgendwann, bei hellem Licht, in der Dämmerung. Nachts lieben sie sich. Ein wildes, zärtliches Lieben ohne Herkunft, ohne Zukunft. Sie suchen ineinander das Fremde des anderen und das Fremde des eigenen Lebens, es ist der Gesang der Prärie darin und das Murmeln des Lamanderbachs. Sie machen Feuer unter dem Rascheln der Espen, schlafen ein im Rauschen der Pappeln, liegen wach im Fegen der Föhren, sie sehen das erste Licht des Tages im Duft des Wacholders, frühstücken im Morgenlied des American Robin und lieben sich wieder im nächtlich breiten Quaken der Ochsenmaulfrösche. Die Züge rollen durch ihren Halbschlaf, wie jene für das Kind Robert Allen Zimmerman in Duluth am Lake Superior, kilometerlange Züge rollen immer irgendwohin in diesem Land, beladen mit Bodenschätzen, Getreide und Reichtum, sie rollen eine lange Zeit, mit verhallendem Tuten und leisem, unheimlichem Dröhnen, die Erde vibriert, sie gibt es weiter an die Menschen. Ein Rollen aus der Zeit bis in den Traum.
    Wie Spielzeug dagegen die Züge im Tal eines fernen Dorfes unter einem fernen Hügelberg auf einem fernen Kontinent … Ein Kellnerjunge blickt ihnen nach, sehnsüchtig nach den erleuchteten Fenstern greifend –
    Sie kommen durch grünes und grüngraues Farmhügelland. Herden von schwarzen Kühen, viele Kälber sind gerade erst geboren und liegen noch taub zu Füßen ihrer Mütter, die sie zärtlich abschlecken. Die orangefarbenen Ohrmarken der größeren Kälber leuchten wie Signallampen, Tom kennt das von den Viehweiden an den Hängen des Grillparz. Pferde grasen, ein Reh läuft zwischen ihnen einem Wäldchen zu, ein Mann reitet einen salzverkrusteten Canyon entlang. Die Straßen schnurgerade, hügelauf, hügelab, es ist ein Schaukeln wie in der Liebe, langsam und süß.
    Sie sprechen mit vielen Menschen, erfahren viele Geschichten. Mischen sich unter die leidenschaftlichen Zuschauer der kleinen Land-Rodeos, auf denen die Besten für die großen Wettkämpfe von Calgary oder Cody trainieren. Aiyanna könnte mittun. Seit sie drei ist, reitet sie, Pferde sind ihr vertrauter als Menschen.
    Tom lernt. Die Buchstaben vieler Bücher fliegen vorüber wie die Meilensteine am Straßenrand. Nicht lesen über Moral und Gut und Böse, vielmehr hören und sehen. AugenSchein.
    Hinter dem Auto Staubfahnen. Die Erde ist heiß, die Luft ist heiß und heiß ist der Wind. Unbarmherzig trägt er die letzte Krume weg. Hier wächst nichts mehr. Die Badlands von South Dakota liegen hinter ihnen, sie sind tot, aber hinreißend schön, bizarr in Rot, Ocker und Grau, schwarze Adern dazwischen, weiße Perlenketten aus Stein, aber hier, weiter südlich, ist nur graugelbe, hässliche Steppe. Treibgut, verschleierte Sonne. Noch drei Meilen bis zum Pine Ridge Reservat der Oglala Sioux, wo Aiyannas Mann herstammt. Es ist eines der erbärmlichsten Reservate der USA, klein, wüstenähnlich, fern von jeder Stadt und jeder Arbeitsmöglichkeit.
    Tom lernt und liest in Aiyanna. Ist das, was sie sagt, Wahrheit, und was er in Büchern las, ist Meinung ? Parmenides könnte es ihm sagen, vielleicht. Das Eine ist etwas anderes als das Andere und als sie an die Grenze des Reservats kommen, bricht alles auf, fällt alles zusammen … Plötzlich schreit Aiyanna auf, panisch und knochendurchdringend, schreit immer maßloser, schlägt ihn, schlägt die Hände vor die Augen, fleht Tom an, auf der Stelle umzukehren, es dauert eine Weile, bis er versteht, warum. Es ist Flucht vor den schicksalsschwarzen Bildern ihres Lebens, hier vor dem Anblick eines zerstörten Trunkengesichts, das kein Gesicht mehr ist, das zur Fratze eines hässlichen Tiers wurde, verschrumpelter, zerlumpter Haufen, der einst der Körper einer Frau war. Sie lungert unter dem Vordach eines zerschossenen Hauses, leere Flaschen liegen neben ihr, ein Fetzenbündel inmitten eines Sees von Scherben, die im Licht aufblitzen. Langsam wendet die Frau ihr Gesicht dem Ton des wendenden Autos zu, sehen kann sie es nicht, ihre Augen sind blind. Zitternd führt sie eine Flasche zum Loch, das einst ein Mund war, der vielleicht gute Worte sprach. Sie rasen zurück durch Scenic mit der legendären Bar, alles ist verlassen, die Trophäen von Büffeln und Bullen bleichen in der erbarmungslosen Sonne South Dakotas, die Ausnüchterungszelle steht direkt neben dem Saloon, hinter den eisernen Gitterstäben ein Topf für die

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