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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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Südwesten senkrecht abfällt. Hundert Meter? Mehr?
    Der Kamm ist eine lange Lichtschnur, die sich im Ungefähren verliert. Der Sturm reißt an den Kleidern und an den Boten des Kommenden. Er peitscht die Zweige der Föhren. Es sieht aus, als schrien sie um Hilfe. Stöhnen der Steine.
    Tom will hier weg. Er weiß nichts vom Leben dieses Volkes, das er wie die meisten romantischen Europäer bewundert. Er hat nichts, außer den existenziell gewordenen Wunsch, es zu verstehen. Aber er gehört nicht hierher. Er ist ausgeschlossen von der Sprache des Berges, der Menschen und dieses Steinrades, das ihm keine Medizin verspricht, keine Heilung und keine Zukunft.
    Aiyanna spricht lange mit dem Ranger, dessen langes schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten ist. Der Sturm schlägt ihn auf seinem Rücken hin und her. Sie reicht ihm einen zusammengefalteten kleinen Zettel. Das Medizinbeutelchen, das der Mann um den Hals trägt, ist glatt und glänzt speckig von jahrelangem Gebrauch. Er öffnet es und gibt Aiyanna etwas Winziges sorgsam in die Hände. Eine große Intimität ist zwischen ihnen. Tom ist irritiert durch die Eindringlichkeit der Gesten.
    Später beschreibt der Ranger Aiyanna einen geeigneten Stellplatz für die Nacht.
    Er ist leicht zu finden und liegt ein Stück talwärts in einer windgeschützten Mulde unweit der Straße. Eine Gruppe Wetterfichten schützt den Ort. Drei der kleinen, widerstandsfähigen Pferde der Indianer, die sie Ponys nennen, stehen reglos unter Bäumen, eng aneinandergedrängt. An Feuer ist nicht zu denken. Mit dem Gaskocher im Auto wärmt Tom Wasser für einen Tee. Er versucht, Aiyanna zu überreden, doch noch in die Ebene hinunterzufahren, wo es wärmer wäre und sie besser versorgt wären. Er will fort. Sie will bleiben. Sie ist müde, sagt sie. Dann kriechen sie in ihren Kleidern in die Schlafsäcke. Aiyanna schläft sofort ein. Tom liegt wach, schläft ein, erwacht unruhig. In the still of the night . Diese Stunde hat er immer gefürchtet. Da spürt er Aiyannas Hand, ihre Lippen. Sie öffnet seinen Schlafsack, zieht ihren über sie beide, öffnet seine Holzfällerjacke, seine Hose, alles. Sie streift sich ihre Kleider vom Leib, er spürt die Wärme ihres schlaftrunkenen Körpers, ineinander bringen sie sich zum Wachen. Sie fallen übereinander her, voll Gier und Sehnsucht und inniger als das erste Mal, fremd noch immer und schon vertraut, ein Mann und eine Frau unter dem klaren Himmel kaltgefegter Sterne. Lieben sich, als ob es um das Leben ginge, um den Tod und die Augenblicke davor.
    Am Morgen ist Aiyanna verschwunden.
    Auf ihrem Schlafsack liegt ein Zettel.
    Philámayaye
    Tókhi wániphika ní!
    Aiya
    Verzweifelt, aber halbherzig sucht er sie.
    Er weiß, er wird sie nicht finden.
    Cante skuya. Sweetheart.
    Fehlt ein Pferd?
    Weiter drüben grasen welche, es sind fünf.
    Tom fährt noch einmal zum großen Parkplatz.
    Die riesige Sendeanlage auf dem Gipfel darüber ragt aus dem Frühnebel.
    Er geht zum Medicine Wheel.
    Ein anderer Ranger hat Dienst.
    Er sei erst heute früh hier eingeteilt worden.
    Der Kollege habe sich überraschend abgemeldet.
    Komme auch die nächsten Tage nicht.
    Tom bleibt den Tag über am Muldenplatz.
    Die Pferde streunen dahin und dorthin.
    Grasen.
    Stehen still.
    Er wartet.
    Immer noch Sturm.
    Wartet.
    Bleibt über Nacht.
    Als das erste Licht die Sendeanlage streift, bricht er auf.
    2823 Kilometer bis Toronto.
    Er schläft drei, vier Stunden auf einem Rastplatz, sonst fährt er durch.
    Legt alle Bob-Dylan-CDs ein, die er mithat.
    Weiße Cowboystiefelchen trug das Kind am Ufer des Lake Superior.
    Damals hieß es noch Robert Allen Zimmerman.
    Den Mississippi überquerend, denkt Tom an Duluth.
    Der Ursprung des Stroms liegt nicht weit von dort.
    Näher noch wäre Hibbing in der Iron Range.
    Nach der Brücke bleibt er auf einem Trucker-Parkplatz stehen.
    Schaut hinauf Richtung Duluth.
    Richtung Norden, den die Indios Weisheit nennen.
    Packt die Gitarre aus. Jetzt spielt er Bob Dylan ein Lied. Er hat es ihm versprochen, bevor er aufbrach aus dem Dorf. Welches Lied? Welches? Welche Zeile?
    … That he not busy being born is busy dying? Oder das Lied Everything Is Broken aus einem seiner Lieblingsalben, aus Oh Mercy ? Singt ihm schließlich Mr. Tambourine Man , diesen rätselhaften Song über den rätselhaften Tamburin-Spieler. Ist es ein Verführer, ein Freund, der Tod, der Freund Tod?
    … Far from the twisted reach of crazy sorrow
    Yes, to dance beneath the diamond sky

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