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An diesem einen Punkt der Welt - Roman

An diesem einen Punkt der Welt - Roman

Titel: An diesem einen Punkt der Welt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brita Steinwendtner
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als das Erwartete? Erwarten wir zu viel? Von anderen und von uns selbst? Und sind enttäuscht, wenn es nicht eintrifft? Verderben wir uns zu viel durch dieses Warten und Erwarten, worauf denn eigentlich?
    Nachts das Wiegenlied der Pappelblätter, der dumpfe Laut eines kilometerlangen Zuges, die Erde bebt leicht, ein fast unmerkliches Erdendröhnen. Morgens, noch im Halbschlaf, wieder die Kammermusik der Pappeln, zwei weiße Pelikane in der Schilfbucht des Sees.
    *
    Pick-up. Highway. Weiter.
    Wo war die Grenze zu Saskatchewan?
    Längst vorbei. Hier gibt es keine Grenzen.
    Es ist ein Land.
    Wilde Wolken, weite Horizonte.
    Grenzenlose Felder, grün oder braun in ersoffener Erde.
    Kein Rausch von Gelb im Wind der Prärie.
    Er hat gerade gelernt, seine Erwartungen zu zügeln.
    Er hat gerade etwas überstanden.
    Smash your way to freedom.

34
    Um sechs Uhr steht Tom vor dem Haus, das sie ihm beschrieb. Sie wirft ihre Tasche in den Laderaum, steigt ein, durch die noch schlafende Ansiedlung fahren sie Richtung Süden.
    Saskatchewan
    Manitoba
    North Dakota
    South Dakota
    Montana
    Wyoming
    Aiyanna hat ein Ziel: das Medicine Wheel in den Big Horn Mountains in Wyoming. Sie muss dorthin. Sie hat eine Verabredung, sagt sie. Tom fragt nicht, welche. Sie ist da, sie ist neben ihm, er trägt sie durch Tage und Nächte und jeden Atemzug ihrer Gegenwart.
    Das Land.
    Sie beide.
    Die Himmel.
    Toms Pick-up ist praktikabel. Er hat den Aufsatz zum Schlafen und Tom muss von Wyoming direkt nach Toronto zurück, will er den Ford zum vereinbarten Termin abliefern. Die Benzinkosten für die mehr als tausend Meilen bis zu den Big Horns übernimmt Aiyanna, ich hätte sie ja selbst auch tragen müssen, sagt sie lachend, wenn ich meinen alten Chevi genommen hätte. Sie werden zickzack durch das Land fahren, Aiyanna weiß genau, wohin sie überall will.
    Wie kommst du dann zurück?
    Das wird sich finden, mach dir keine Sorgen.
    Bilderbuchland der Kindheit, wirklich und brüchig. Ströme, die einen Namen haben und die sie queren: den North Saskatchewan, South Saskatchewan und den Missouri, den Little Missouri und den Yellowstone, den North und den South Platte. Fahren über Prärien und Plains, nie ohne Wind, ohne Sturm, heiß oder kalt, schwül oder erfrischend, immer ist Wind, er kommt von den Rocky Mountains her und fegt über die Ebenen, nimmt an Geschwindigkeit und Hitze zu, dörrt das Land aus, trägt die Erde weg, lässt den Weizen reifen. Die Regengebiete liegen längst hinter ihnen, weiter im Süden ist Trockenheit, gilben die Felder, verdorrt das Steppengras, das Land ist gelb und gelb unter wolkengetürmtem Himmel. Viele der Farmhäuser sind verlassen, die Besitzer kommen nur zur Ernte, sie leben großstädtisch in Regina, Calgary oder Edmonton. Am Missouri bleiben sie zwei Tage. Gehen am Ufer des Flusses entlang, hinauf in die mit hohem Gras bewachsenen Uferterrassen. Wagenspuren der Siedler im Fels, eine glitzernd blaue Schwalbe auf einem Zaunpfosten. Zwei Reiter tauchen auf, verlieren sich wieder.
    Schau sie dir an, sagt Aiyanna, die Männer mit Cowboyhüten und Cowboystiefeln, diesen Symbolen des Wilden Westens, den ihr in euren Filmen verherrlicht. Sie besitzen alles. Wir aber, die ihr ebenso verherrlicht in schönen, aber falschen Bildern, wir haben alles verloren, wir haben unsere Heimat verloren, unsere Sprachen, unsere Beweglichkeit, die Schnelligkeit, Härte, Disziplin und die Fähigkeit zur Askese, unsere Lieder und unsere Tänze. Wir haben einander verloren.
    Aiyanna hat ihren vierjährigen Sohn und ihren Mann verloren.
    Er war betrunken, sagt sie, als er frontal in einen Truck fuhr, beide waren sofort tot. Sie hat ihren Vater durch Alkohol verloren und einen ihrer Brüder, zwei Onkel, drei Cousins, ihre Großmutter. Sie lebten und leben in verstreuten Reservaten, fast überall hat man ihnen das schlechteste, unfruchtbarste Land gegeben, wo nichts wächst, wo keine Arbeit ist und keine Zukunft. Winzigste Stücke eines großen, großen Landes, das kaum besiedelt, aber bis zum kleinsten Canyon im Kataster eingetragen ist. Die Besitzer können damit machen, was sie wollen, sagt Aiyanna, bebauen, schürfen oder verfallen lassen, alles können sie machen, nur wir haben nicht einmal das Recht, darüber zu reiten. Es gibt einige von uns, die – so würdet ihr sagen – es geschafft haben, die fortgingen, Berufe erlernten und in den Städten geachtete Bürger wurden. Es gibt die offizielle Erlaubnis, innerhalb unserer Grenzen

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