An diesem einen Punkt der Welt - Roman
Anschlags. Tom dachte sofort an KaO Richter und seine Clique. Später stellte sich heraus, dass Mikram sie angebracht hatte, um das einfallende Krähenvolk zu vertreiben, das sich rund um das Haus einzunisten drohte und alles vollschiss, Glasscheiben, Fensterbretter und Hauswände. Die Eingangstür vom Hof her und die beiden Fenster links und rechts waren mit Hakenkreuzen beschmiert. Das allerdings war eindeutig zuzuordnen. Am Wochenende würden Lucia und Florian, auch Roberta mit ihrer Zugehfrau kommen und helfen. Dominik hatte Ferien, auch er hatte sich angeboten, gemeinsam würden sie Haus und Garten wieder halbwegs in Ordnung bringen.
Die Sonne stand hoch über dem Böschungswald, die Wiesen wurden zum zweiten Mal gemäht, der Wind trug den Duft von Heu über die feuchten Bücher, es war ein Jahr, in dem die Fichten blühten, ihr Samenschleier legte sich auf die Gitarren. Mutterkühe grasten mit ihren Kälbern auf den Weiden.
Nach der Krise der ersten Zeit fühlte sich Tom leicht. Er ging wieder unter Menschen. War fröhlich, die Freunde wunderten sich, so ausgeglichen hatte er seit dem Bruch mit Elisa nicht mehr gewirkt. Er telefonierte, besuchte, traf sich mit diesem und jenem, nahm seine Tätigkeiten in den politischen und sozialen Vereinen wieder auf, holte die Dorfzeitung aus den Klischees, entwarf interessante Projekte, hatte gute Ergänzungen zu bestehenden, spielte und sang die neuen Dylan-Songs, konzipierte eine Reihe spannender Vorträge für den Mesnerwirt und war für alle endlich wieder Anreger und Vermittler. Mit Matthias, Leonhard und dem Redaktionsteam plante er das Herbstprogramm des Literaturladens und zusätzlich ein großes Literaturfest, Abschlussabend im Lamanderhaus, mit einem Gespräch über die Ferne und das Über-Schreiten: über Ströme, Gebirge und Länder, über Grenzen, Klima- und Zeitzonen, Kulturen, Religionen und Vorurteile. Es würde Dezember sein, also kalt, darum würde er bis dahin die Scheune renovieren und sie für diesen Höhepunkt auf Glanz bringen müssen. In sein braun gebundenes Heft schrieb er wiederum lange Listen von Dingen, die getan werden sollten.
Tom war wieder Ganymed, der das Füllhorn seiner Ideen über Zweifler, Zögerer und Routiniers ausschüttete. Seine poetische Kraft, sagte Matthias später, kannte die Unmöglichkeit nicht. Ohne ihn sind wir auf dem Boden des Faktischen gelandet.
Alle waren froh, dass Tom zurück war. Dass er wieder so war wie früher, selbstverständlich, ohne Hast und größere Bedeutung, aber mit Überzeugung. Irgendwie löst sich alles zum Guten, sagte er, wenn man ehrlich und hartnäckig ist und daran glaubt. Das vergangene Jahr, meinte Mikram, vergessen wir lieber.
Es gab wieder Schachspiele, Diskussionen, Zusammenkünfte.
Roberta und Parmenides hießen ihn willkommen, es war eine große Wiedersehensfreude in ihren Gesten. Tom hatte ihnen gefehlt. Roberta hatte den Gegenstand ihrer Sorge wieder nahe, der väterliche Freund hatte die Reibung, das Contra in den Gesprächen vermisst.
Eines Abends öffnete jenes Mädchen die Tür, das er vor mehr als einem Jahr bei der Ringlottenernte kurz gesehen, aber neben Elisa nicht wirklich zur Kenntnis genommen hatte. Tom stutze. Vollbusig, walkürenhaft, so groß wie er selbst, stand sie vor ihm. Blond, würde in den Playboy passen. Sagte einfach Hallo und Komm rein und ging ihm voraus, ihr Parfum roch gut. Verena, sagte sie, wir kennen uns ja flüchtig. Sie war die Enkelin eines Jugendfreundes von Parmenides aus Köln, die in der stiftseigenen Werkstatt für Glasmalerei ein Praktikum machen wollte. Sie war eben von einer zweimonatigen Reise durch Usbekistan zurückgekommen. Sie war – unfassbare Vorstellung – alleine unterwegs gewesen, zu Fuß, mit Bus und Eisenbahn oder versuchte zu trampen. Tom war hingerissen vom Mut und dem unglaublichen Selbstbewusstsein des Mädchens. Dagegen nahmen sich seine Berichte mager aus. Aber er erzählte dennoch viel und bildreich, alle hörten ihm gerne zu.
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Aiyanna erwähnte er nicht.
Wieder allein zu Hause, glitt Tom zurück in die monotone Tag- und Nachtfahrt über die Interstates, zurück von den Big Horn Mountains nach Toronto. Aiyanna, niemand und nichts als Aiyanna war in ihm gewesen. In Gedanken suchte er sie überall. Er war wütend, verzweifelt, enttäuscht. Hatte Angst um sie, quälende Angst. Fragte
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