An diesem einen Punkt der Welt - Roman
suchte in diesem herrlichen Sommer dringend Hilfe. Tom hatte schon ausgeholfen, er kannte also den Betrieb. Mikram selbst, der anderweitig beschäftigt war, würde gerne nur mehr halbtags anwesend sein müssen. Am 20. Juli erhielt Tom den freien Dienstvertrag des Vereins POLIKULT, der den Badebetrieb am See verwaltete. 20. Juli, dachte Tom. Solche Koinzidenzen gibt es. Es war der Tag, an dem Claus Schenk von Stauffenberg das Attentat verübt hatte, es fehlgeschlagen war und er mit anderen Oppositionellen noch in der Nacht hingerichtet wurde.
Der Badesee war vor rund zwei Jahrzehnten entstanden, als der erste Teilabschnitt der Nord-Süd-Autobahn gebaut wurde und man die großen Schottermengen an der Mündung zweier Flüsse nützen wollte.
Ein Heimatschriftsteller der alten Schule würde den See ein „grünes Auge“ nennen. Er war wirklich eines. Lag smaragdgrün und unbewegt inmitten der Wiesen, aus denen er herausgebaggert worden war. Rundum hatte man künstliche neue angelegt, die für den Badebetrieb immer bestens gepflegt waren. Es war an Bänke, Kinderspielplätze und Schattenbäume gedacht worden. Zur Hälfte war der See von einer Böschung eingerahmt, die aus einem schönen Mischwald bestand, der im Herbst leuchtende Farben in den Spiegel des Wassers warf. Auf der gegenüberliegenden Seite war der See vom Mündungsgebiet der beiden Flüsse begrenzt, die Trinkwasserqualität hatten und beliebte Ziele für Wildwasserpaddler waren.
Bevor man auf einer Nebenstraße den See erreichte, lag rechter Hand ein großer Campingplatz. Im Lauf der Jahre war er zu einer Dauereinrichtung geworden, die Wohnwägen wurden zu stabilen Hütten umfunktioniert oder überhaupt durch Schrebergartenhäuschen ersetzt. Zur Versorgung baute man ein Restaurant an das Seeufer, ein hässlicher Durchschnittsbau, für die Dauercamper und Badegäste jedoch ein beliebter Treffpunkt und wichtig in verregneten Sommern. Die Anlage erinnerte Tom an viele, die er drüben gesehen hatte, schlampiger zwar, improvisierter, nicht so pingelig adrett wie diese hier, aber er sah beide mit leichter Sympathie. Was ihn selbst befremdete, verachtete er doch im Denken solche Stammplätze des immer Gleichen. Für die kleine Geborgenheit jedoch war er immer empfänglich gewesen.
Sommer am See.
Kein meergleicher Superior mit dem Goldstrahl am granitenen Ufer und kein Cyprus Lake, über den die Wildgänse so wild gezogen waren, kein Lake Manitoba der sprechenden Kiesel und kein driftender Bootssteg unter dem Getuschel der Pappeln. Aber es gab Wurfseile der Erinnerung hierhin und dorthin, der Badesee war dunkel und grünblau wie die Waldseen Ontarios und so war es gut.
Es schien, dass Tom seine neue Aufgabe liebte, er stürzte sich geradezu hinein. Vom Tagesablauf her brachte sie Routine und Disziplin in sein Leben, viel Arbeit und viel Abwechslung. Er verwaltete die Eintrittskarten, war Kioskbetreiber und Gärtner, denn er war auch an zwei Tagen die Woche für die weitläufigen Rasenflächen verantwortlich, für Mähen und Sauberkeit. Er stand früh auf, kaufte ein, fuhr die 20 Kilometer zum See, mähte, bereitete mit einer Frau, die er stundenweise anstellte, Sandwiches mit Salat und Paradeisern vor und Brotaufstriche mit Frischkäse vom Bauernmarkt, außerdem bot er Obst, Getränke und Eis an. Er hatte den Ehrgeiz, ein gesunder Kiosk zu sein. Mikram hatte nur wenig Zeit, bald betrieb Tom großteils alleine die Badeanstalt.
Innerhalb kurzer Zeit wurde er zum Mittelpunkt für junge Leute. Vor allem für Mädchen. Alle, die ihre Ferien mit Eltern oder Großeltern in den Dauerhütten oder als Tagesgäste am See verbringen mussten und sich langweilten, scharten sich um den neuen Pächter. Er konnte höchst unterhaltsam sein, wusste immer irgendwelche Geschichten zu erzählen, war schlagfertig und liebenswürdig und der beste Zuhörer für alle Probleme, die die jungen Leute hatten. Eltern, Schule, Freunde oder Freundinnen, Verliebtheiten, Berufswahl. Er war geduldig, nahm alle ernst, sie fühlten sich bei ihm aufgehoben. Das gefiel auch den älteren Jugendlichen, die sich mit Fachfragen an ihn wandten. Wenn man mit ihm redet, sagte einer seiner Bewunderer, hat man ein ganzes Literaturhaus. Ein zweiter nannte ihn Ovid.
Böse Zungen gab es überall. Manche sagten, der Kioskler sei ein Mädchenverzahrer , er missbrauche das Vertrauen der Jugendlichen. Andere wiederum sahen, wie sehr ihn die Mädchen bedrängten, wie sie ihm, wenn Hochbetrieb war, mitunter auf die
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