An diesem einen Punkt der Welt - Roman
sich rastlos, was wohl ihre Beweggründe gewesen waren, von Fort Carlton aufzubrechen, im Zickzack das über tausend Meilen entfernte Medicine Wheel zu erreichen und ihn dann zu verlassen, sich nachts aus dem Auto zu stehlen und keine Spur, keine Adresse, keine Telefonnummer und keinen Hinweis auf ihre Ziele oder Motive zu hinterlassen. Die Seitentüre des Pick-ups war vorsichtig angelehnt gewesen. Philámayaye. Tókhi wániphika ní! Liebesworte? Abschiedsworte? Er sah wieder die senkrechte Felswand am nördlichen Rand des Medicine Wheel vor sich. Den Ranger. Die Pferde. Er entwarf ungezählte Szenarien von Möglichkeiten, furchtbare und schöne. Er kam zu keinem Ergebnis.
Mit der Eintönigkeit des Fahrens und der Müdigkeit, die ihn ergriffen und die beim Warten auf dem Airport und später im Flugzeug zugenommen hatte, hatte sich langsam ein Knoten in seinem Kopf gelöst, im Herzen, dem Magen, in seinem Körper, er wusste nicht genau, wo, überall vielleicht. Vorübergehend begann er daran zu glauben, dass sie ihn nicht nur benützt hatte als Kompagnon für eine weite Strecke, Sex oder weniger Einsamkeit, sondern dass es etwas wie Liebe geworden war, eine Liebe am Rand eines Abgrunds, den er nicht kannte, den er nur manchmal beunruhigt erahnte, wenn sie erzählte und ihn ansah und nichts in ihren Augen war als das Nichts. Aber er hatte sie gut genug gekannt, um zu wissen, dass sie unterwegs sein wollte oder musste wie ihre nomadischen Ahnen, dass sie eine Reiterin war, die die freien Prärien liebte, den Wind und den großen Himmel. Und dass es das war, was sie ihm durch den Ranger oben im Sturm im Angesicht des Medicine Wheel sagen wollte: dass sie unterwegs sein müsse zu einem neuen Leben oder einem endgültigen Ende. Das blieb offen und beides hatte eine Leichtigkeit, die er durch sie lernen wollte.
Als die Dunkelschwelle nach seiner Ankunft im Dorf überwunden war und ihn das Grillparzland mit betörenden Sommertagen und die Freunde mit Freude umfangen hatten, ließ das Quälende der Erinnerung langsam nach. Wenn es still war im Lamanderhaus und seine Bücher ihn schützten wie ein fellgefütterter Mantel, war er bereit, alle Skepsis sein zu lassen und sich einzugestehen, dass etwas wie Glück in ihm wuchs. Das Glück, sie gekannt und geliebt zu haben.
Philámayaye –
37
Die Tage. Die Herden. Die Zeit.
Das Telefon klingelte.
Hubert, ein alter Freund, der inzwischen Leiter der örtlichen Bankfiliale geworden war, rief an. Toms Konto sei im Minus, die Überziehungszinsen seien hoch, ob er nicht vorbeikommen könne, um eine Lösung zu finden.
Welche Lösung.
Tom musste dringend Arbeit suchen. Wieder einmal. Diese Mühsal kannte er und er wunderte sich, wie schnell ihn die Dinge, die er überwunden glaubte oder verdrängt hatte, wieder einholten. Mit der Mutter war nicht mehr zu rechnen. Sie blieb dabei: Kein Quadratmeter wird verkauft. Ich lasse mir nichts nehmen, wiederholte sie, nichts, von keinem Menschen, auch nicht von dir. Später wird sie das Haus gänzlich verschließen, dem letzten Untermieter, einem Tschetschenen, der aus Vorarlberg zurückgekommen war und einen üppigen Gemüsegarten am Bach angelegt hatte, kündigen, niemandem mehr Zutritt in das Haus gestatten und die Tausende Bücher – außer jene wenigen, die der Vater legal und Freunde illegal weggeschafft hatten – allesamt verschimmeln lassen.
Obwohl vielfach eingebunden in Gemeindeverantwortlichkeiten, war Tom kein Beamter mit regelmäßigem Salär. Seine Mitarbeit in den Bürgergremien war teilweise ehrenamtlich, nur einige Projekte wurden honoriert oder ein minimaler Grundgehalt vergütet. Die Dorfzeitung zahlte schlecht und der Literaturladen war noch nicht groß genug, um seinem Führungsteam ein Honorar auszuschreiben, auch das war nur um den Lohn der Worte. Nachhilfe- und Gitarrestunden waren ein gutes Einkommen, dennoch zu wenig. Und für den Gedanken, wieder Hilfsarbeiter im Baugewerbe zu werden, fühlte sich Tom noch zu stark und voll Lebensmut. Also nahm er die Demütigung der Prozedur auf sich und bezog Arbeitslose. Er sprach mit Professor Emanuel Karlinger, aber in naher Zukunft würde keine Assistentenstelle frei werden und ohne Endprüfungen auch nicht durchsetzbar. Karlinger riet ihm dringend, das Lehramt abzuschließen, und bot ihm einen Gesprächstermin an, um wieder Anschluss an die Thematik zu finden. Sie vereinbarten Mitte August.
Mikram war der Retter.
Er hatte abermals den Kiosk am Badesee gepachtet und
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