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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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pausbäckig, fäusteballend, brüllend.
    Mark hatte dieses Bild einmal Brendan gezeigt. Wie alt war Brendan damals gewesen? Fünf? Sechs? Brendan hatte es vorsichtig am äußersten Rand angefasst und mit gespitzten Lippen darauf hinabgeschaut, argwöhnisch.
    Das bist du, hatte Mark ihm gesagt. Du als Baby.
    Brendan hatte mit zaghafter Hand sein eigenes Gesicht berührt.
    Ich guck so böse, hatte er gesagt und gekichert.
    Alle Babys werden zwischendurch mal böse, hatte Mark gesagt. Aber schau, wie glücklich Mommy und ich sind.
    Mark schloss die Augen, doch er sah das Bild immer noch. Mommy und Daddy, strahlend.
    Klitzeklitzekleiner Brendan .
    Das Haus nah. Wachsam.
    Ja, dachte er. Ja. Lew hatte recht. Chloe hatte recht. Brendan wollte einfach alles wieder so haben wie zu seinen Lebzeiten. Er wollte Mommy und Daddy. Mommy und Daddy, die immer für ihn da waren. Mommy und Daddy, die jede Nacht zusammen in ihrem großen Bett schliefen. Mommy und Daddy, Sonne und Mond.
    Chloe kam hier Tag für Tag her, mit diesen Bildern. Sie saß hier und weinte und sagte Brendan genau das, was er hören wollte: Ja . Natürlich würden Mommy und Daddy ihm helfen. Beide zusammen. Sie wünschte, sie könnte die alten Zeiten zurückholen.
    Natürlich könne er sie beide haben, wie früher, so wie sie gewesen waren. Vollkommen. Heil.
    Aber sie waren nicht vollkommen, er und Chloe. Ihre Liebe zueinander war nicht vollkommen gewesen. Und ihre Liebe zu ihrem Sohn auch nicht.
    Sonst würde Brendan noch leben.
    Begreifst du das nicht?
    So viel Zeit, wie du hattest. Langsam solltest du es wirklich wissen.
    Mommy und Daddy haben Jahre darüber gestritten, und beide hatten wir recht. Es war unsere Schuld.
    Es sah nach einem Unfall aus. Dein großer Rucksack. Dein offenes Schnürband. Dein Heimlichtun.
    Aber es war keiner. Kein richtiger. Du wolltest weglaufen, sicher, aber Mommy und ich waren an diesem Morgen ja auch zum Weglaufen.
    Weil wir dich nicht geliebt haben, wie wir sollten. Weil ich lieber trinken und fernsehen wollte, als bei dir nach dem Rechten zu schauen. Weil deine Mutter mich mit dir bestrafen wollte.
    Aber geliebt haben wir dich trotzdem, mein Kleiner. Oh, wie wir dich geliebt haben. Als du weg warst, wussten wir, wie sehr.
    Es hat uns fast umgebracht, das zu begreifen.
    Mark weinte jetzt. Er trank noch mehr Whiskey und legte sich hin, den Kopf in Chloes Jacke gedrückt. Das Zimmer schwankte, schwankte, schwankte. Er langte zur Lampe hinüber und zog an der Kordel.
    Wie ein Licht, das man ausknipst.
    »Es tut mir leid«, sagte er.
    Weißt du das? Es ist die Wahrheit. Mir tut es leid, und Mommy tut es leid. Es tut uns so leid, mein Kleiner. Du ahnst nicht, wie leid .
    Und oh, wie er sich nach einer zweiten Chance sehnte. Mit jeder Faser seines Seins. Er hätte alles darum gegeben. Ja. Alles . Der Gedanke breitete sich von seinem Kopf aus bis in seine kribbelnden Fingerspitzen: Jeden Handel würde er eingehen. Er würde fortgehen von Allie und seinem neuen Leben, wenn er nur zurückdürfte, wenn er durch die Tür dieses Hauses treten dürfte und sein altes Leben wieder aufnehmen. Den Mark ersetzen, der in seinem Sessel vor dem Basketballspiel saß, seinen zweiten Drink in der Hand, im Kopf nichts als seinen eigenen Frust. Mit jeder Faser seines Seins wünschte er sich, er könnte aufstehen und zur Treppe gehen. Sie hinaufsteigen und zu Brendan ins Zimmer gehen und sich hinknien vor seinen noch ganz verheulten kleinen Sohn, der überrascht und schuldbewusst aufsah, beide Hände tief in seinem Rucksack, und ihm sagen: Es tut mir leid, es tut mir so leid. Ja, wir waren böse aufeinander, aber das macht nichts. Wir nerven uns manchmal, aber das macht nichts. Das Leben ist nicht immer so, wie wir es uns vorstellen, aber das macht nichts: Es ist hundertmal besser, als tot zu sein. Als einander zu verlieren. Er würde Brendans Gesicht zwischen seine Hände nehmen und ihm in die blauen Augen sehen, diese meerblauen Augen, und er würde sagen: Ich weiß das. Ich weiß es mit einer Gewissheit, wie du sie nie haben wirst. Ich liebe dich, ich liebe dich mehr als mein Leben, und du darfst nie mehr von mir fortgehen, ich hoffe, das weißt du, denn wenn du fortgehst, wenn du stirbst, dann sterbe ich auch.
    Glaub mir das, mein Kleiner: Ohne einander sind wir alle verloren.
    Und wenn Mark das über die Lippen brachte, das wusste er, dann, noch im selben Augenblick, würden sie hören, wie unten die Tür aufging und Mommy hereinkam und ihre

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