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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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dass in dem Zimmer, in dem früher Mark gearbeitet hatte, jemand war. Vielleicht hatte er deshalb gerufen: Daddy .
    Mark wandte sich ab. Die Türen zu den anderen Zimmern hier oben waren alle zu. Einen langen Augenblick dachte er daran, die Tür zum Elternschlafzimmer zu öffnen. Doch er konnte es nicht – er ertrug den Gedanken nicht, es ohne ihr Ehebett zu sehen, ohne den Schaukelstuhl in der Ecke, die langen verschrammten Spiegelkommoden. In den letzten Monaten hier hatten Chloe und er dieses Zimmer gemieden.
    Er starrte den Gang entlang zu Brendans Zimmer, auf das warme Licht, das durch die Tür über die Dielenbretter fiel.
    Geister wollen als Einziges, dass die Vergangenheit wieder zurückkommt.
    »Aber sie kommt nicht zurück«, sagte Mark.
    Er hatte gewusst, dass Brendans Zimmer nicht mehr so aussehen würde wie früher, mit dem Geistervertreiber am Kopfende des zerwühlten Bettes, den niedrigen Regalen beidseits des Fensters, auf denen sich die Bücher stapelten, und den National Geographic -Karten von Mond und Erde an den goldgelb gestrichenen Wänden. Trotzdem war er überrascht von dem Anblick, der sich ihm bot – der Raum hell erleuchtet, uneingerichtet, aber trotzdem voller Zeug: Kartons. Kleiderhaufen. Dicht an die rechte Wand gerückt stand eine lange Kommode mit noch mehr Kleidern und zwei oder drei Paar Damenschuhen darauf. Und alles warf tiefe, breit auf Mark zulaufende Schatten, denn die Lampe, deren Schirm vergilbt vor Alter war, stand auf einer Holzkiste ein Stück unterm Fenster.
    Aber keine Spur von Brendan.
    Mark ging über die staubigen Dielen zum Fenster mit seiner Lampe. Hier waren die Kartons beiseitegeschoben. Direkt unter dem Fensterbrett lagen ein großes Kissen und davor ein Stoß zusammengefalteter Kleider und ein sauberes Häufchen Fotos. Er wusste gleich, was das war: die Sachen, die Chloe zu Hilfe nahm, um sich auf Brendan zu konzentrieren. Um ihn herbeizurufen.
    Es war kalt im Zimmer. Das Fenster unter dem heruntergezogenen Rollo stand einen winzigen Spalt offen. Auf dem Fensterbrett war ein Aschenbecher. Chloes? Von einem gelegentlichen Joint abgesehen hatte sie, seit er sie kannte, nicht mehr geraucht.
    Chloe war hierhergefahren, nachdem sie sich vor dem Gewächshaus getrennt hatten. Sie hatte auf dem Kissen gesessen, geraucht und an Brendan gedacht. An ihn.
    Wenn Mark erst morgen gekommen wäre, dann wäre das alles weggeräumt gewesen. Was er hier sah, war etwas ganz Privates, Intimes: Er sah in Chloes Herz.
    Er setzte sich auf den Boden, neben das Kissen, und lehnte den Rücken an die Wand. Vom Fensterbrett zog es eisig herab. Er nahm die Whiskeyflasche aus der Tasche und stellte sie neben sich. Er war da. Es konnte losgehen.
    Brendan war Chloe erschienen, wenn sie das Licht ausmachte und sich konzentrierte. Wenn sie mit ihm sprach. Das würde er auch tun.
    Aber noch nicht. Erst wollte er sehen, was Chloe hier alles hatte.
    Die Kleider in dem Stapel gehörten Brendan. Er wusste, dass sie ein paar Stücke aufgehoben hatte, auch wenn er sie seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Obenauf lag ein blassblaues T-Shirt – Chloes Lieblingsfarbe für Brendan. Darunter waren eine Jeans und, soweit Mark das sehen konnte, das alte graue Buckeyes-Sweatshirt, in dem er gestorben war. Neben den Kleidern stand ein Paar von Brendans Sportschuhen.
    Er strich über den Stoff des T-Shirts. Roch an seinen Fingerspitzen. Nichts. Er griff nach einem der Schuhe, einem weißen Nike-Schuh, rot und schwarz abgesetzt, die Nähte und Ritzen noch mit letzten Schlammkrusten darin. Das waren nicht die Schuhe, die Brendan angehabt hatte – die möglicherweise schuld waren an seinem Tod. Die hatten sie weggeworfen.
    Mark hob den Schuh ans Gesicht. Auch er roch kaum mehr. Aber da – eine alte Schärfe. Ein Hauch von Turnhallenmief. Die Härchen an seinen Unterarmen stellten sich auf.
    Er schloss die Augen, hielt den Atem an. Doch nichts weiter geschah. Niemand fuhr in ihn hinein. Erschien ihm . Mark stellte den Schuh wieder hin. Seine Hand zitterte. Bedächtig schraubte er die Flasche auf und nahm einen langen Zug.
    Er zwang sich, die Bilder aufzuheben. Es mochten an die zwanzig sein. Er war sich sicher, dass er sie kannte – sie hatten von fast all ihren Fotos von Brendan Abzüge machen lassen, um sie den Großeltern zu schicken, und Sam hatte ihm nach Chloes Auszug einen ganzen Haufen zurückgegeben, ohne dass Mark ihn darum bitten musste.
    Er fing zu blättern an.
    Brendan als Krabbelkind

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