An einem Tag im Januar
dickbäuchigen Wachskreiden-Weihnachtsmann im Innern und das knittrige Stück Tonpapier, auf das Brendan zum ersten Mal seinen Namen gekrakelt hatte.
Dieses Blatt behielt Mark lange in der Hand, überwältigt mit einem Mal von der Vorstellung, ein anderes Kind zu haben – ein kleines Mädchen. Er sah sie ganz deutlich: braunhaarig, braunäugig, mit runden Backen. Ein echtes Kind, ein lebendes Kind.
Mark klemmte sich die Mappe unter den Arm und ging hinüber ins Schlafzimmer, um seine Kleider zu packen.
Das Schlafzimmer sah wüst aus. Allie hatte hastig gepackt; alles, was sie nicht mitnahm, lag noch über Boden und Bett verstreut.
Er versuchte, nicht an Allies Beschimpfungen oder Sams Vorhaltungen zu denken, aber beides hallte in ihm nach. Mark war ein schlechter Partner, ein schlechter Sohn. Ohne es zu wollen, war er zum schlimmsten aller Lügner geworden.
Vor seinem inneren Auge erschien wieder Jacob Pelhams verdruckstes, schuldbewusstes Gesicht.
Er setzte sich auf den Bettrand, schloss die Augen und konzentrierte alle seine Gedanken auf Brendans altes Zimmer, auf die zarte, schwebende Berührung, die ihn ganz und gar durchdrungen hatte, auf die trappelnden kleinen Füße, die von ihm weggelaufen waren, hinaus und die Treppe hinab.
Brendan.
Ich habe dich gespürt, oder etwa nicht? Du hast nach mir gerufen, und ich bin dich suchen gekommen. Und dann warst du da, du bist durch mich hindurchgegangen, und ich habe dich gehört und gespürt und deine Schritte auf der Treppe gehört. Du warst da.
Du warst wirklich da. Es muss so gewesen sein .
Mark stellte sich Allies letzte Minuten hier im Zimmer vor – wie sie ihre Kleider in den Koffer stopfte, wie sie dasaß, vielleicht am selben Fleck wie er jetzt, schluchzend, schluchzend.
Du musst da sein, mein Kleiner.
Denn wenn nicht, was wird dann aus mir ?
Mark war schon an der Treppe, den Koffer in der Hand, als ihm sein Ladegerät einfiel. Er stellte den Koffer ab und ging zurück in sein Büro. Das Ladegerät war im selben Mehrfachstecker wie der Computer eingesteckt; er zog es heraus und schob es in die Innentasche seines Mantels. Dann wanderte sein Blick zurück zum Schreibtisch. Wer konnte wissen, wann er das nächste Mal herkam – so wenig er im Moment an die Arbeit denken mochte, sollte er vielleicht sicherheitshalber den Laptop mitnehmen. Er fuhr den Desktop hoch, fing an, seinen Kalender durchzusehen, ein paar von den kleineren Projektdateien auf die externe Festplatte zu überspielen. Denn auch wenn ihm die Erinnerung an Brendans Zimmer fast realer vorkam, gab es doch immer noch Rechnungen, die bezahlt werden mussten, Termine, die eingehalten sein wollten.
Gerade jetzt, wo er und Allie sich die Miete künftig nicht mehr teilen würden. Wo er wieder Vater eines Kindes wurde.
Ein Vater, ein Vater – hast du das gewusst, Brendan? Du weißt so viel – hättest du mir das nicht sagen können?
Aber vielleicht wusste es Brendan ja gar nicht. Konnte es nicht wissen. Weil Jacob gelogen hatte, weil die Sache mit Brendan doch ein Hirngespinst war.
Hexen in Salem. Die Juden in Birkenau. Die Toten von Jonestown. All die Männer, Frauen und Kinder, die sich auf belebten Plätzen in Israel, Syrien oder im Irak mit Nagelbomben in die Luft sprengten. Diese Attentäter, die Teppichmesser an Bord der Flugzeuge geschmuggelt hatten, um sich damit ein Jenseits voller Jungfrauen zu sichern.
Aber das waren die Extreme. Wie stand es um jene banaleren Existenzen, die Mark immer bemitleidet und verspottet hatte: die Zuschauer der Fernsehpredigten? Wann immer er sich durch die Sender zappte, sah er sie, diese Meere von Menschen in ihren riesigen Kirchen, die mit erhobenen Armen und geschlossenen Augen Zwiesprache mit dem Unsichtbaren hielten, während ihre Hirten ihnen die Wonnen der Freigebigkeit predigten. Waren er und Chloe so viel anders als sie?
Er dachte an Trudy Weill, an den Druck ihrer Hände. Ist das nicht ein Trost?
Der Computer lief. Zum ersten Mal seit seinem Besuch bei Trudy hatte Mark Gelegenheit, im Internet zu surfen. Angesichts all dessen, was er getan hatte und noch tun würde, stand es ihm zu, kurz einmal über sie zu recherchieren. Oder?
Er entschied, ja. So viel war er seinem alten Leben schuldig.
Seine erste Suche, nach »Gertrude Weill«, ergab nur einen Treffer: die primitive Website einer Kirche des Weißen Lichts in Kent, Michigan. Ihr gestalterisches Highlight war ein Foto der Kirche selbst, ein flacher Steinbau mit einem sprießenden
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