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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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sich auch so vorstellen. Er sah Sam vor sich, wie er die schwere hölzerne Tür abschloss. Sich wieder der rothaarigen jungen Frau zuwandte, die vor seinem Schreibtisch saß und – vielleicht, höchstwahrscheinlich sogar – weinte.
    Was sein Vater sagen wollte, war nichts anderes, als dass sie an Ort und Stelle gevögelt hatten. Auf dem Teppich, auf dem Schreibtisch, vielleicht in dem großen Ohrensessel in der Ecke, wo Sam im warmen gelben Lichtschein der Tiffanylampe seine Arbeiten korrigierte.
    Demselben Sessel, in dem Mark in diesem Alter so viele Nachmittage hindurch seine Hardy-Boys-Krimis, seine Troll-Comics – seine Geistergeschichten – gelesen hatte, während sein Vater an seinem Schreibtisch arbeitete. Sein Vater hielt öfters Sommerkurse ab; Mark fuhr manchmal mit ihm und verbrachte den Tag in Sams Büro. Er las oder zeichnete, und vereinzelt blieb er sogar allein und schlief, während sein Vater unterrichtete oder an einer Sitzung teilnahm.
    Es war vorgekommen, dass jemand klopfte, wenn Mark allein war: Kollegen, Studenten. Fast alle im Gebäude kannten Mark und wussten, dass er seinen Vater gern zur Arbeit begleitete. Die Studenten machten viel Aufhebens um ihn. Er konnte sich an mehrere Frauen erinnern – groß, schön, bedrohlich –, die in der Tür gestanden und auf ihn herabgelächelt und nach Professor Fife gefragt hatten.
    Eine Frau, deren Gesicht Mark nicht mehr vor sich sah, hatte gesagt: Du bist also Sams Sohn? Ich hab schon viel von dir gehört.
    Hatte die Frau rote Haare gehabt? Mark wollte es nicht ausschließen.
    Sag ihm … war da.
    Mach ich, hatte er wahrscheinlich gesagt und den Namen der Frau auf den gelben Block auf dem Schreibtisch geschrieben.
    Sein Vater erzählte unterdessen weiter.
    Er und die Frau waren verrückt nacheinander, sagte er. Er verschob seine Kurse nach hinten – er log Molly an, behauptete, ihm wäre ein Abendkurs aufgedrückt worden –, um sich mit der Frau zweimal die Woche für eine oder zwei Stunden in einem Motel treffen zu können.
    Sooft er das Motel und die Arme seiner Geliebten verließ, sagte Sam, und die vierzig langen Minuten zurück aufs Land fuhr, wo seine Frau und sein Sohn schliefen, überließ er sich seiner Verzweiflung.
    »Ich wollte alles haben«, sagte er. »Sie. Und Molly auch. Und mein Leben vor der Ehe, vor deiner Geburt – bevor alles so ein furchtbares Gewicht bekam. Ich wollte das Unmögliche.« Sam lächelte reumütig. »Und natürlich wollte ich dich.«
    Sein Vater setzte seine Affäre mit der Frau ein gutes Jahr fort. Ihre Promotion rückte näher, und bei ihrer Brillanz war klar, dass sie nicht lang auf eine Dozentenstelle würde warten müssen – aber im Zweifel weit weg von Indianapolis. Je mehr sich ihr Abschluss und Aufbruch näherten, desto haltlosere Versprechungen machte er ihr: dass er sie zu sehr liebe, um sie gehen zu lassen. Dass er seine Frau und sein Kind verlassen wolle. Dass sie heiraten würden, dass sie eigene Kinder bekommen würden. Dass sie Professoren an derselben Universität sein würden, Herr und Herrin eines Campus in einem fernen Bundesstaat.
    »Mein Leben lang«, sagte sein Vater, »hatte ich mich für integer gehalten. Mir etwas darauf eingebildet, dass mein Wort etwas galt. Dass es einen Wert hatte. Und nun hörte ich mich plötzlich Dinge versprechen, die ich nicht wahrmachen konnte. Die überhaupt nichts wert waren.«
    Er hielt inne. Wägte seine nächsten Worte ab. Er hatte Mark kein einziges Mal ins Gesicht gesehen.
    »Molly ist dahintergekommen«, sagte er. »Die alte, banale Geschichte. Die Frau hatte ein Briefchen in eine von meinen Taschen gesteckt, das ich übersehen hatte. Vielleicht wollte sie, dass ich erwischt werde. Vielleicht wusste sie, dass ich nichts als Lügen von mir gab, und wollte mich auf die Probe stellen. Letztlich ist es ja auch egal. Deine Mutter fand es heraus und stellte mich zur Rede.
    Ich würde gern sagen können, dass ich sofort nachgab. Dass ich auf die Knie fiel und um Vergebung bettelte und ewige Liebe und Treue schwor. Dass ich Tränen der Reue weinte. Aber das habe ich nicht.«
    Mark erinnerte sich jetzt wieder an diese Zeit – diese Phase in seiner Kindheit, als sein Vater grundlos gereizt und distanziert gewesen war und Mark statt einer Antwort jedes zweite Mal einen Rüffel von ihm bekommen hatte. Ärger an der Uni, behaupteten seine Mutter und sein Vater übereinstimmend.
    Jetzt fragte er sich, ob er seinen Vater deshalb so oft ins Büro begleitet hatte,

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