An einem Tag im Januar
sie Streit gehabt, Brendan hatte seine Spielsachen nicht vom Wohnzimmerboden aufheben wollen und, als Mark nicht nachgab, einen Tobsuchtsanfall bekommen. Mark hatte ihn in sein Zimmer geschickt. So hatte er seinen Sohn zum letzten Mal am Leben gesehen: mit rotem Gesicht und roten Augen, hicksend und schluchzend und bitterböse Seitenblicke auf Mark schleudernd, bevor er wütend die Treppe hinaufstampfte.
Während Mark fernsah und sich seinen düsteren Gedanken hingab, war Brendan fleißig gewesen. Er hatte einen Rucksack mit zwei Garnituren Kleidung und seinen Lieblingsbüchern und Lieblingsspielsachen vollgepackt. Er war vorsichtig den Gang entlang ins Elternschlafzimmer geschlichen, um von dort einen Freund anzurufen und ihm zu sagen, dass er zu ihm kommen wolle. Dann hatte er sich aus dem Haus zu stehlen versucht.
Vielleicht hatte ihn der schwere Rucksack ins Schlingern gebracht, vielleicht war er auch über die offenen Schnürsenkel an seinem rechten Tennisschuh gestolpert. Auf jeden Fall war Brendan den obersten Treppenabschnitt hinabgestürzt. Durch den Aufprall waren sowohl Halswirbel als auch Schädel schwer verletzt worden. Er war bewusstlos gewesen, als Mark zu ihm kam, nur Sekunden nach dem furchtbaren polternden Lärm des Sturzes. Dem schrillen letzten Aufschrei. Brendan erlangte das Bewusstsein nicht wieder; obwohl der Rettungswagen bereits acht Minuten nach dem Sturz eintraf – ihr Haus lag nur eine Meile vom Ohio State Hospital entfernt –, hörte er fast in dem Moment, in dem sie ihn in die Notaufnahme trugen, zu atmen auf.
Er hatte nicht gelitten. Das wusste Mark von dem Arzt, der bei Brendan den Tod festgestellt hatte: Brendan war sofort nach dem Aufschlag hirntot gewesen. Laut dem Arzt, einem dünnen älteren Mann mit einer sanften, sachlichen Stimme (er erinnerte Mark an Sam, was ein klein wenig half), spielte es keine Rolle, dass Brendan im Krankenhaus gestorben war; den Brendan, den Mark geliebt hatte, gab es schon nicht mehr, als Mark den Treppenabsatz erreichte.
Ein paar Wochen nach dem Begräbnis war das gewesen. Als Mark noch einmal ins Krankenhaus gefahren war, um ihn zu sprechen, seine schuldgetriebenen Fragen loszuwerden.
Es war einfach Pech, Mr Fife, hatte der Arzt gesagt. Jeden Tag kommen Kinder mit verstauchtem Handgelenk oder Platzwunden zu uns in die Notaufnahme, weil sie die Treppe hinuntergefallen sind. Und gestern Nacht dann ein Mann, der auf dem Gehsteig ausgerutscht war: Schädelbruch, tot. Wir sind ganz einfach zerbrechlich.
Vielleicht wusste er, dass das kein Trost war. Er sah einen Moment auf Brendans Akte hinab.
Sie müssen es sich vorstellen wie einen Schalter, den man ausknipst, sagte der Arzt. Er beugte sich zu Mark vor, legte ihm die Hand auf den Arm, suchte Augenkontakt. In meinem Beruf sehe ich jeden Tag Kinder, die viel, viel mehr leiden als Ihr Brendan.
Es gibt Schicksale, die schlimmer sind als ein plötzlicher Tod. Auch das sagte er.
Ein Schalter, den man ausknipst. Von wenigen schwachen Momenten abgesehen – Momenten auf den Knien, inmitten von Scherben – hatte Mark das immer geglaubt. Brendan Samuel Fife, sein einziger Sohn, war durch Pech gestorben und somit nicht mehr existent. Es gab ihn nicht mehr.
Nichts war übrig von ihm. Brendans Körper war begraben worden und inzwischen verwest in seinem kleinen Sarg. Er war in Schwärze aufgegangen, in einer Abwesenheit, die sich mit Worten nicht beschreiben ließ. Das glaubte Mark, ohne Abstriche. Sein kleiner Sohn war nicht im Himmel, er schlief keinen traumlosen Schlaf. Er war nichts mehr, so ganz und gar aus der Welt wie das Licht einer ausgeknipsten Glühbirne.
Aber was war, wenn ?
Der Gedanke schien wie ein Herzschlag – ein kleines, böses Herz, das zum Leben erwachte.
Was war, wenn sich Mark nur zu neunundneunzig Prozent sicher war? Wenn in diesem Wenn – diesem Ein-Prozent-Splitter, diesem grauenhaften Vielleicht – Platz für den Geist eines kleinen Jungen war?
Unmöglich. Selbst wenn Mark in allem unrecht hatte – selbst wenn es Seelen gab und einen Gott, der sie schuf, und einen Himmel, der sie aufnahm –, wie konnte es dann Geister geben? Wenn es einen Himmel gab, dann musste Brendan dort sein. Dann war er – wie ihm so viele Menschen mit innigem Händedruck im Vorraum des Bestattungsinstituts beteuert hatten – im Paradies, zusammen mit Marks Mutter und einem liebreichen Gott.
Aber wenn Connie nun doch die Wahrheit sagte? Wenn Brendan tatsächlich noch in dem Haus war?
Mark
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