An einem Tag im Januar
Wievielte war das jetzt? Es fehlte schon einiges aus der Flasche. Und wenn schon. Er nahm das Handy, schaltete es aus, ganz aus. So. Jetzt konnte Chloe nicht mehr anrufen. Und zu ihm fahren konnte sie auch nicht, nicht bei diesen Straßen. Niemand konnte ihn heute Nacht mehr erreichen. Er konnte tun und denken, was er wollte.
Etwas war in dem alten Haus passiert. Chloe hatte weinend bei ihm angerufen.
Er kannte Chloe. Kannte sie in- und auswendig. Er hatte sie Dutzende von Malen weinen sehen. Er hatte sie bei Hochzeiten weinen sehen, und er hatte sie aus den tiefsten Abgründen ihrer Seele um ihr verlorenes, zerschlagenes Kind weinen sehen.
Er hatte sie auch bei seinem Heiratsantrag weinen sehen. Und bei ihrem Ehegelübde. Und mit ihrem neugeborenen Sohn in den Armen – Mark hatte am Bettrand gesessen, und sie hatte auf Brendan hinabgeblickt und geflüstert: Er ist so vollkommen, er ist so wunderschön, Mark …
Sie hatte nicht aus Kummer geweint, vorhin am Telefon.
Er hatte es in ihrer Stimme gehört: ein Schwingen, ein Klingen. Eine Erfülltheit. Was immer in ihrem alten Haus passiert war, Chloes Tränen waren Tränen des Glücks.
III
Die Mutter seines Sohns
VIERZEHN
Mark erwachte in einer veränderten Welt.
Das Licht in dieser Welt war grau, stechend. Er lag auf dem Sofa, und er musste eine Weile überlegen, wieso. Dann hob sich sein Magen, das Zimmer drehte sich, und er schaffte es gerade noch – knieweich, sein Rücken knotig, verkrampft –, in die Küche zu taumeln und sich ins Spülbecken zu übergeben.
Eine lange Zeit saß er am Küchentisch, schaudernd in der kalten Luft, die durch das notdürftig geflickte Loch in der Hintertür hereinströmte, und versuchte die Ereignisse der letzten Nacht zusammenzustückeln. Er erinnerte sich an die Kälte. Viele Scherben. Whiskey. Chloes Anruf.
Erschrocken klopfte er seine Taschen ab, ging dann ins Wohnzimmer und suchte zwischen den Sofakissen, bis er sein Handy gefunden hatte. Keine neuen Anrufe.
Er überprüfte die gewählten Nummern – und war in allem Elend maßlos erleichtert festzustellen, dass er Chloe nicht zurückgerufen hatte.
Wieder in der Küche würgte er eine Handvoll Advil hinunter. Dann schüttete er mit einer angewiderten Grimasse Scheuerpulver in den Ausguss und spülte mit Wasser nach.
Es war zehn Uhr. Schneekämme und -grate zackten schräg über die Straße; die Räder der geparkten Autos waren völlig zugeweht. Allison würde bestimmt nicht vor Mittag loszufahren versuchen, wenn überhaupt.
Er hob die halbgeleerte Flasche Maker’s auf, die neben dem Sofa stand. Er trug sie nach oben, klappte den Klodeckel hoch und leerte sie nach nur einer Sekunde des Zögerns hinein.
Er ließ Badewasser ein, saß dann eine Ewigkeit in der Wanne, ohne Licht, den Kopf zwischen den Knien. Chloes Anruf verfolgte ihn.
Der Jubel in ihrer Stimme.
Der entschwindende Nachhall seines eigenen Glücks, damals beim Erwachen in der Diele des leeren Hauses. Das war ihm immer als die grausamste Strafe von allen erschienen: zu spüren – zu wissen –, dass er Brendan endlich gefunden hatte, dass sein Sohn nicht wirklich weg war. Nur um dann zu sich zu kommen und ihn wieder von Neuem zu verlieren.
Er zog sich an und ging nach unten. Draußen stoben und wirbelten die Flocken immer noch. Auf seinem Handy war eine neue Nachricht von Allison. Die Straßen seien noch nicht frei, vielleicht würde sie heute noch zurückfahren, vielleicht auch nicht. »Du fehlst mir«, sagte sie mutlos. Es klang nicht so, als täte ihr Besuch bei Darlene einer von beiden sonderlich gut.
Er würde Allie später zurückrufen. Fürs Erste hatte er zu tun. Küche wie auch Wohnzimmer stanken nach Kotze und Schnaps. Natürlich konnte er ihr erzählen, was passiert war – aber alles in ihm sträubte sich dagegen. Er hatte ihr schon genug Sorgen gemacht, sie musste nicht auch noch dahinterkommen, warum er sich die Zeit allein mit Saufen vertrieben hatte. Er wischte den Boden und machte dann Feuer im Kamin, zündete Kerzen an, obwohl er sich eigentlich nur hinlegen, die Augen schließen und tausend Jahre lang schlafen wollte.
Aber das durfte er nicht. Also sang er sich vor:
Wir ziehen das durch, wir beiden. Und zwar, weil wir Männer sind .
Ein kleines Lied, das er sich ausgedacht hatte, als Brendan – wie alt war er gewesen? Fünf, fast sechs. An einem Herbstwochenende, an dem sie miteinander die Blätter in ihrem kleinen Garten zusammengerecht hatten – alles sollte fertig sein,
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