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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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bis Chloe heimkam, und dann würden sie zur Belohnung ein Video ausleihen. Brendan hatte hochkonzentriert gearbeitet, Mark sah ihn noch vor sich, wie er die Laubsäcke über den Rasen vor zum Tor schleifte.
    Aber vorher hatten sie die Blätter auf einen riesigen Haufen gerecht. Damit hatte Mark ihm das Helfen schmackhaft gemacht: Brendan war noch nie in einen Laubhaufen gesprungen, und heute sollte es so weit sein.
    Brendans Bewegungsdrang war nicht übergroß – selbst in diesem Alter zeichnete sich schon ab, dass er ein Bücherwurm werden würde wie seine Eltern –, doch an diesem Nachmittag sprang er begeistert in das aufgetürmte Laub, immer höher, immer wilder, unter immer ausgelassenerem Gelächter. Zwischen den Sprüngen raufte er mit Mark, ließ sich von ihm kitzeln – ganz deutlich sah Mark noch Brendans roten Grinsemund in dem kältebleichen Gesicht, sah ihn, wie er keuchend vor ihm im Kreis rannte und schrie: Daddy – nicht – kitzeln! Zum krönenden Abschluss hatte Mark ihn als Paket in den Haufen geworfen, aber er war so gelandet, dass seine Schulter an einen verborgenen Stein schlug, und als er aufstand, kippte sein Lachen in Wehgebrüll um.
    Daddy!, hatte er geheult, die Vokale langgezogen, anklagend hervorgekreischt; der Übergang von Freudengeschrei zu bitterstem Vorwurf war bei Brendan stets fließend gewesen.
    Er hatte Brendan ins Haus getragen, ihn aufs Küchenbüfett gesetzt, seinen Kratzer verpflastert – denn mehr war es nicht, eine kleine Schramme, drei Bluttröpfchen. Aber Brendan hatte immer weiter gewimmert und geschnieft und gestöhnt.
    Schon damals – ein Jahr vor dem Wutanfall, der schuld war an seinem Tod – war ihm Brendans Wehleidigkeit auf die Nerven gegangen. Sein Sohn war schließlich kein Baby mehr, und an diesem Nachmittag – wie so oft – hatte er sich zusammenreißen müssen, um ihm das nicht vorzuhalten. Um positiv zu sein. Ein guter Vater.
    Er hatte sich aufgerichtet. Seine Jacke angezogen. Gesagt: So, dann wollen wir mal wieder. Wir haben eine kleine Pause gemacht, jetzt wird weitergearbeitet.
    In Brendans tränenverschmiertem Gesicht schien sich das Leid der ganzen Welt zu bündeln: Daddy, nein!
    Wir müssen noch etwas tun. Nur weil es ein bisschen wehtut, heißt das nicht, dass wir uns vor der Arbeit drücken können. Wir haben es Mommy doch versprochen, stimmt’s? Wir ziehen das durch, wir beiden. Und zwar, weil wir Männer sind.
    Mark hatte es zu singen begonnen. Einmal, zweimal, noch einmal.
    Und dann hast du eingestimmt. Wir haben es zusammen gesungen. Die Fäuste schüttelnd wie zwei Piraten.
    So habe ich dich wieder nach draußen gelockt.
    So habe ich mit dir geredet. Als du noch am Leben warst.
    Als es dich noch gab.
    Um halb drei war das Haus wieder einigermaßen vorzeigbar. Mark wurde nicht mehr flau im Magen, sobald er sich gerade hinstellte. Er rief Allie an, hoffnungsvoll, zaudernd.
    Sie sei unterwegs, meldete sie ihm. Die Autobahn sei immerhin ansatzweise geräumt. Sie komme nur langsam voran und werde wahrscheinlich nicht vor dem Abend da sein.
    Mark erzählte ihr eine verkürzte Fassung des gestrigen Abenteuers: dass er schwachsinnigerweise zu Fuß zum Minimarkt gegangen sei, sich ausgesperrt habe und die Scheibe habe einschlagen müssen, um wieder ins Haus zu gelangen. Allie schimpfte nicht mit ihm, sie lachte. Er lag auf dem Sofa, und als er ihr Lachen hörte, schämte er sich plötzlich ganz fürchterlich. Er presste sich die Finger gegen die Augenlider und sagte: »Ich vermisse dich.«
    Allie wurde sofort hellhörig. »Ist irgendwas passiert?«
    Chloes Stimme, zittrig, flirrend vor Glück.
    »Nein«, sagte er. »Mehr ist nicht passiert.«
    Er legte auf, machte sich wieder ans Putzen. Das Licht vor den Fenstern schwand schon. Er versuchte seine Gedanken auf seine Arbeit zu konzentrieren, auf die Sendung im Fernsehen, auf Allie, die vorsichtig zu ihm heimfuhr. Aber die Gedanken gingen ihre eigenen Wege.
    Hatte Chloe ihn gesehen? Ihn gehört? Hatte Brendan ihren Namen gerufen? Marks Namen?
    Gott im Himmel – wenn Brendan in dem Haus war, wenn er die ganze Zeit über dort gewesen war …
    Gott im Himmel, was dann?
    Aber Brendan war nicht dort. Konnte nicht dort sein.
    Weil Brendan tot war. Tot und begraben.
    Tatsachen blieben Tatsachen. Brendan war den oberen Teil der steilen, schmalen Treppe in ihrem alten Haus in der Locust Avenue hinabgestürzt. Mark hatte unten im Fernsehzimmer ein Basketballspiel gesehen. Eine Stunde vor dem Unfall hatten

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