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An einem Tag im Januar

An einem Tag im Januar

Titel: An einem Tag im Januar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Coake
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dachte an all die Fotos im Internet. An den Bericht der jungen Mutter, für die außer Zweifel stand, dass der Geist ihrer ertrunkenen Tochter noch da war.
    Wenn ein Kind ein Geist werden konnte – wenn sein Kind ein Geist war –, musste dahinter nicht etwas Schlimmes stecken?
    Wie, wenn Brendan gestorben, aber nicht tot war?
    Vielleicht war er nicht lang nach dem Sturz aufgewacht, verwirrt. Vielleicht dachte er, er hätte einen Mittagsschlaf gemacht und verschlafen.
    Vielleicht hatten sich seine Beine und Arme taub angefühlt, schwerelos. Vielleicht hatte er den Mund öffnen wollen, und es war keine richtige Stimme herausgekommen, nur ein Flüstern oder nicht einmal das. Vielleicht war er aufgestanden und durchs Haus gelaufen, durch alle Zimmer. Vielleicht hatte er sehen können, was passierte – Mark im Wohnzimmer, der von einem Polizisten zurückgehalten wurde, während die Sanitäter an ihm vorbei die Treppe hinaufhetzten und bei der seltsamen Jungs-Puppe niederknieten, die so still auf dem Treppenabsatz lag, mit einem Rucksack auf dem Rücken und genau solchen Schuhen wie Brendan …
    Wann konnte er es begriffen haben?
    Vielleicht, als er sah, wie die Sanitäter den kleinen Körper auf einer Bahre zur Haustür hinaus- und zu dem Krankenwagen trugen, der mit blitzendem Blaulicht vor dem Haus stand. Als er Mark mit dem Polizisten weggehen sah. Vielleicht hatte Brendan ihnen nachzulaufen versucht – und an der Haustür aufgegeben, voller Panik. Gefangen hinter Türen, die er nicht öffnen konnte. Vielleicht hatte er geschrien: Hier bin ich, hier, warte …
    Daddy!
    Oder vielleicht war alles ganz anders gewesen. Vielleicht hatte Brendan die Augen in einem fremden Haus aufgeschlagen, einem, in dem es nichts als Spinnweben und feinen grauen Staub gab. Vielleicht hatte er vor den Fenstern nur Nebel gesehen. Vielleicht hatten die Türknäufe in dem Haus sich nicht drehen, die Fenster sich nicht hochschieben lassen; vielleicht war seine eigene Haut so schattenfarben gewesen wie die Wände, schattenfarben und klamm.
    Was mochte dieser Brendan empfunden haben, als er schließlich verstand, dass er an diesem Ort allein war?
    Als er von einem Zimmer zum anderen gelaufen war, immer schneller, und nirgends seine Eltern gefunden hatte, nirgends einen Weg hinaus?
    Aber vielleicht hatte dieser Schattenjunge Mutter und Vater vereinzelt ja doch noch gehört.
    Vielleicht hatte der Schatten-Brendan das Ohr an die staubigen Wände gedrückt und ihrem gedämpften Murmeln zu lauschen versucht.
    Erst musste er ihr Weinen gehört haben, ihren Kummer. Sie hatten ihn verloren; so viel war klar. Darauf war nur allzu bald ihr Streiten gefolgt – Schreien und Bezichtigungen, wie er sie im Leben noch nie gehört hatte. Dann kam das Schweigen und dann – das Unheimlichste von allem – das Geräusch von Kisten, die zugeklappt, Möbeln, die fortgetragen wurden. Wie musste er nach ihnen gerufen, nach ihnen geschrien haben! Aber sie hatten ihn nicht gehört.
    Was mochte es für einen kleinen Jungen bedeuten, so etwas durchzumachen? Was musste aus ihm werden, in seiner langen Zeit allein?
    Was immer von ihm übrig war, ein paar Monate später hatte dieses graue, einsame Ding, diese kleine jungsförmige Schliere plötzlich neue Geräusche gehört. Anfangs hatte er es wahrscheinlich kaum glauben mögen, so oft, wie er schon trügerischen Ächzern und Seufzern nachgerannt war – so oft, wie ihn die Träume der Lebenden schon hatten hochschrecken lassen.
    Aber jetzt! Ein Geräusch, ein echtes Geräusch, Schritte im Erdgeschoss. Er war nicht allein.
    Mit gespitzten Ohren musste er von Zimmer zu Zimmer geschlichen sein, der Schattenjunge. Und da – im Haus war ein Mann, der murmelte! Das Herz des Schattenjungen hatte zu flattern begonnen, als lebte er noch: Sein Daddy war wieder da! Daddy führte unten Selbstgespräche – und der Schattenjunge versuchte, sich bemerkbar zu machen, von einem Zimmer zum anderen rennend, laut rufend. Aber er sah niemanden …
    Bis schließlich – ja! Da kam Daddy, langsam, schwerfällig stapfte er die Treppe hinauf, sein Umriss unscharf, zerfließend, als trüge er seine Flasche über den Boden eines Schwimmbeckens. Daddy!, rief er, immer wieder, und plötzlich – endlich, endlich! – sah sein Daddy ihn, sein Daddy kniete sich hin, sein Daddy sagte: Da bin ich doch, auch seine Stimme war undeutlich und doch so voller Glück, dass die Sonne neu zu scheinen begann. Mein Gott, Brendan, sagte Daddy, komm her, und

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