An einem Tag im Winter
Leidenschaft im Spiel ist, werden die Leute unberechenbar.«
Ein junger Matrose mit einem unschuldigen Jungengesicht bat Michael um Feuer, und Michael reichte ihm seine Zigarette. Dann sagte er zu India: »Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass man dich mit Marcus Phaorah gesehen hat«, und sie warf ihm einen erstaunten Blick zu.
»Kennst du ihn?«
»Nein, das würde ich nicht sagen.« Der Matrose gab die Zigarette zurück, und Michael lächelte ihm freundlich zu. »Man sieht sich hin und wieder bei einem Abendessen oder einem Empfang. Aber jeder weià natürlich, wer er ist. Wusstest du, dass er sich von seiner Frau scheiden lässt? Oder wahrscheinlich eher umgekehrt, sie lässt sich von ihm scheiden. Er ist ja ziemlich berüchtigt.«
»Soll das eine Warnung sein, Michael?«
»Ich rate dir nur, vorsichtig zu sein. Pharoah steht in der Ãffentlichkeit. Wenn bekannt würde, dass ihr beide eine Affäre habt â«
»Haben wir nicht.«
»Aber genau das werden die Leute glauben, India«, entgegnete Michael ruhig. »Es wird Klatsch geben. Ach, was sag ich, den gibtâs schon.«
Wenn diese Geschichte zwischen ihr und Marcus keine Liebesaffäre war, was dann?
Ganz sicher keine Freundschaft. Sie stritten mindestens ebenso viel, wie sie nett miteinander umgingen, und wenngleich Marcus sie bis jetzt nicht einmal geküsst hatte, so wusste sie doch, dass er es gern getan hätte.
Manchmal dachte sie, sie hätte sich in der Schule mehr Mühe geben sollen. Dann hätte sie Krankenschwester oder Lehrerin werden können oder etwas in der Richtung. Dann wäre sie jetzt eine geachtete Frau. Sie hatte immer eine geachtete Frau werden wollen und nie recht verstanden, warum es anders gekommen war. Marcus Pharoah, elegant und gewandt, besaà einen kühlen Verstand und ein starkes Machtbewusstsein. Sie fühlte sich von diesen Eigenschaften angezogen, aber sie beunruhigten sie auch. India war bereit, Macht anzuerkennen, doch sie sah sie gleichzeitig als Bedrohung. Wurde sie damit konfrontiert, gab es für sie nur eins â sich ihrem Zugriff zu entziehen.
Von Glasgow aus fuhren Alec und Ellen in nördlicher Richtung weiter zum Loch Lomond. Sie kamen langsamer vorwärts, als sie die gewundene StraÃe am Fuà der Berge erreichten, deren steile Felshänge von dunklem Wald oder dichten Feldern rostfarbenen Adlerfarns bedeckt waren. Auf der anderen Seite des Autos wurde zwischen Häusern und Bäumen hin und wieder eine Insel oder ein Schloss sichtbar und immer der glänzende schwarze Spiegel des Wassers.
In Ardlui, am Nordufer des Loch, machten sie Pause und setzten sich in ein Hotel, um Tee zu trinken. Hinterher vertraten sie sich die Beine im Hotelgarten und gingen hinunter zu einem schmalen FuÃweg, der zwischen Büschen mit dunkelgrünen, ledrigen Blättern hindurch zum Ufer führte. Eine weiÃe Jacht kreuzte mit geblähten Segeln gegen den Wind. Während sie am Rand des kalten Wassers stand, fasste Ellen unwillkürlich nach dem Ring am dritten Finger ihrer linken Hand. Sie und Alec hatten ihn zusammen ausgesucht, drei Brillanten auf einem goldenen Reif.
Nach einer Weile kehrten sie zum Wagen zurück, und weiter ging es, durch Crianlaroch und Tyndrum zu FüÃen der Berge, die ihre zackigen, grauen Spitzen in den Himmel stieÃen, die schrundigen Hänge von Steinschlägen aufgerissen oder mit Birken und Ebereschen aufgeforstet. Bäche wanden sich durch schmale Täler, die selbst im Sonnenschein des Nachmittags kahl und unfreundlich erschienen, oder stürzten in schäumenden Wasserfällen, die das Licht einfingen und in funkelnde Splitter brachen, von Felsvorsprüngen.
Sie fuhren durch die Küstenstadt Oban, vorbei an Hafen und Hotels, und dann eine schmale StraÃe entlang, die mit dem Gelände stieg und fiel. Wenn ihnen ein Fahrzeug entgegenkam, musste Alec an den StraÃenrand ausweichen, um es passieren zu lassen. Die von Blasentang bedeckten Ufer eines Meeresarms glitzerten im schwindenden Sonnenlicht, dunkle Tannen bildeten eine undurchdringliche Mauer, die plötzlich endete und den Blick freigab auf eine von fernen blaugrünen Inseln gesprenkelte See. Im Garten eines weiÃen Cottage nahm eine Frau eilig die Wäsche von der Leine, als ein plötzlicher Regenschauer niederging. Dann kam die Sonne hinter den Wolken hervor, und ein Regenbogen
Weitere Kostenlose Bücher