An einem Tag im Winter
Kinder entwöhnt waren. Eine Ãbersiedelung nach Seil würde für sie beide das Ende der beruflichen Karriere bedeuten. Alec wusste das, deshalb hatte er die Entscheidung immer wieder aufgeschoben; deshalb hatte er sich vermutlich gescheut, mit ihr darüber zu sprechen. Alles in ihr wehrte sich dagegen. Es musste einen besseren Weg geben, er musste nur gefunden werden.
Sie stand auf und ging ins Bad, um sich ein Glas Wasser zu holen. Zurück in ihrem Zimmer, nahm sie zwei Aspirin und legte sich mit Die Triffids, dem spannenden Science-Fiction-Roman von John Wyndham, wieder hin. Bill Masons verzweifelte Wanderungen durch ein verwüstetes London voller über Nacht erblindeter Menschen lenkte sie von den Geschehnissen des Abends ab. Nach zwei Kapiteln klappte sie das Buch zu und knipste das Licht aus. Ihre Gedanken hatten sich beruhigt, und ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens durchströmte sie. Gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen â gehörte das nicht zum Wesen einer Ehe? Traumbilder stiegen auf wie Meerjungfrauen, die zur Oberfläche der stillen Gewässer in den alten Schieferbrüchen emporschwammen, und schoben sich flimmernd zwischen die Erinnerungen, während sich ihr Körper entspannte und sich ihr Herzschlag verlangsamte.
Plötzlich wurde sie von einem Geräusch geweckt. Der Wind hatte sich gelegt, und sie hörte es ganz deutlich: ein Tappen, ein regelmäÃiges Klopfen, das Knarren einer Diele, das Schleifen eines Schuhs. Die gleichen Geräusche hatte sie in ihrer ersten Nacht auf der Insel gehört. Jemand schritt durch den Korridor.
Nein. Die Schritte kamen von oben, da war sie sich sicher. Sie fühlte sich wie gelähmt von einer namenlosen Furcht. Irgendetwas schlich in der dunklen Stille der frühen Morgenstunden frei und ungehindert über die Dachböden. Aber was? Und aus welchem Grund?
Sie knipste das Licht an. Nach einem ersten Moment atemlosen Schreckens erkannte sie die Gegenstände im Zimmer mit realistischem, klarem Blick â ein Schrank, ein Toilettentisch, ihr Pullover über der Rückenlehne eines Stuhls.
Das Geräusch war nicht mehr zu vernehmen. Vielleicht war es der Hund gewesen. Mrs. Hunter hatte wahrscheinlich geglaubt, ihn für die Nacht in der Küche eingesperrt zu haben, aber vielleicht hatte er ein Schlupfloch, durch das er entkommen konnte. Vielleicht war sie auch von ihrem eigenen Herzschlag geweckt worden, den ihre überreizte Phantasie zu gespenstischem Tappen verzerrt hatte.
Doch ein Hauch von Furcht blieb, und es dauerte lange, ehe sie sich dazu durchringen konnte, das Licht auszumachen und die Augen wieder zu schlieÃen.
Sie träumte, sie stünde am Rand der Terrasse, die hoch oben auf dem Hügel von Kilmory House über Land und Meer blickte. Die niedrige Mauer war nicht mehr da, und ihre Zehen krümmten sich um die brüchige Kante. Unter ihr hatte der Wind rote Blütenblätter durch den Garten geweht, und es sah aus, als wären Gras und Büsche blutbefleckt. Sie spürte jemanden hinter sich. Ein Schritt, ein leichter Druck gegen ihren Rücken, und sie stürzte â¦
Ellen fuhr keuchend hoch. Licht schimmerte durch die Vorhänge, und ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es kurz vor sieben war. Sie hatte Kopfschmerzen und brachte kaum die Augen auf vor Müdigkeit. Nachdem sie eine lange Hose und einen Pullover übergezogen hatte, lief sie nach unten und ging hinaus in den Garten. Hier, an der kühlen, frischen Luft, verflogen die Ãngste der Nacht, und die Erscheinungen, die sie gemartert hatten, lösten sich im Sonnenschein in bloÃe Hirngespinste auf.
Sie stieg den Hügel hinauf. Das Gras war taunass, die vom Regen getränkte Erde und das feuchte Laub dufteten stark und frisch. Als sie den Blick hob, bemerkte sie vor sich an den Rändern des Wegs einen löchrigen Saum roter Blütenblätter â Rosenblätter, die der Wind in der Nacht von den Sträuchern gerissen hatte. Ihr Traum fiel ihr wieder ein â der jähe Abgrund, der endlose Fall â, und sie erkannte, dass durch den Tumult in ihrem Inneren die Erinnerungen an Dr. Redmonds Tod von Neuem aufgerührt worden waren und sich mit ihrer Höhenangst oben bei dem Sommerhäuschen vermischt hatten. Plötzlich bemerkte sie weiter aufwärts eine Bewegung und hob den Kopf. Mit einer Hand die Augen beschattend, blickte sie nach oben und sah Alec
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