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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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dass ihrem Kind etwas zustoßen könnte, sollte sie ausrutschen und stürzen.
    Dann blieb sie abrupt stehen, mit einer Hand an den glatten Stamm eines Baums gestützt. Sie hörte keine Axtschläge mehr. Vielleicht schluckte das Haus die Geräusche. Vögel bewegten sich flatternd in den Ästen, Krähen stiegen in die Luft hinauf und fielen wieder abwärts wie schwarze Kinderdrachen. Der Schlamm quoll grau und schleimig um ihre Füße, und es roch nach frischem Holz.
    Sie ging weiter. Das Vorankommen war beschwerlich, und sie musste immer wieder nach den herabhängen Ästen eines Baums greifen, um sich zu stützen. Aber sie hatte es fast geschafft.
    Als sie vorsichtig hinter dem Gebüsch hervorspähte, sah sie Gosse auf dem Kiesplatz neben dem Austin-Healey stehen. An die Motorhaube gelehnt, rauchte er eine Zigarette. India zog sich zurück und kehrte um.
    Sie hatten im Januar 1956 geheiratet, nachdem Marcus geschieden worden war. Es war eine standesamtliche Trauung gewesen, der nur Sebastian und ein Kollege von Marcus als Zeugen beiwohnten. India hatte ein kurzes schwarzes Jäckchen mit weißem Fuchskragen über einem knielangen Kleid aus elfenbeinfarbenem Satin getragen. Marcus hatte angespannt gewirkt, sichtlich erleichtert, als die Zeremonie vorbei war, und froh, als er sich nach dem Mittagessen in einem Privatzimmer im Savoy endlich von seinem Kollegen und Sebastian verabschieden und die beiden in ein Taxi setzen konnte.
    Danach, im Bett, bedeckte er ihren ganzen Körper von den Fußsohlen bis zu den Ohrmuscheln mit Küssen. Umgeben vom Luxus ihres Zimmers im Savoy, spürte sie seine absolute Konzentration, hörte ihn flüsternd seine Liebe beteuern. Er ließ seine Hand über die Konturen ihrer Brust und ihrer Hüfte gleiten, hielt inne, um ein Fältchen ihrer Haut zwischen Daumen und Finger zu drücken, und stöhnte tief auf, als sie ihn berührte.
    Am nächsten Morgen flogen sie mit Zwischenlandungen in Irland und Neufundland in die USA. Bei einem Zwischenstopp zum Auftanken sah India zu den Schneeflocken hinaus, die durch die diesige Luft taumelten. Nach einigen Tagen in Boston, wo es bitterkalt und stürmisch war, fuhren sie mit dem Auto weiter, in nördlicher Richtung bis nach Cape Cod. Bei ihren Strandspaziergängen knirschte der gefrorene Sand unter ihren Füßen, und die Wellen, die das Ufer benetzten, gefroren zu gekräuselten Spitzenvolants aus Eis. Dann ging es weiter nach Nordwesten, durch die dichten, dunklen Wälder von Maine. Wegen des Schnees wählten sie Straßen, die durch Täler und Senken führten, aber fast auf der ganzen Fahrt begleitete sie die gewaltige weiße Kulisse der Berge, deren Gipfel schwerelos über tief hängenden Wolken zu schweben schienen oder im Sonnenlicht leuchteten.
    Ein Schneesturm zwang sie, zwei Nächte in einem Rasthaus zu verbringen, dann fuhren sie weiter. Wenn die Bäume sich teilten, zeigten sich die opalisierenden Flächen gefrorener Seen. Neben der Straße sah India niedrige Blockhäuser mit Holzstößen davor, einen bellenden Hund, der an seiner Kette zerrte, und einen rostzerfressenen Lieferwagen unter Bäumen. Überdachte Brücken führten über seichte, springende Bäche. In schmucken kleinen Dörfern hielten sie an, um Kaffee zu trinken oder zu übernachten.
    Während der Fahrt spürte India immer Marcus’ Ungeduld. Er redete mit ihr über seine Sehnsucht, endlich wieder zu arbeiten. Er würde etwas Neues schaffen, sagte er, etwas Einmaliges. Aus dem Forschungsinstitut, das er in Neuengland aufbauen wollte, würden Entdeckungen hervorgehen, die in der ganzen Welt Aufsehen erregen würden. Seine Stimme, voller Erwartung und Eifer, durchzog wie eine ruhelose Melodie ihre ganze gemeinsame Fahrt.
    Hin und wieder, wenn India zum Fenster hinausschaute, dachte sie an den Schnee in Neufundland, den holprigen Flug durch die Wolken, an die gefrorene See in Cape Cod und das orangefarbene Leuchten der Berge in der Abenddämmerung. Lauter Wunder. Alles schien möglich.
    In den ersten Monaten in Vermont glaubte Marcus offenbar noch, dass er bekommen würde, was er wollte. Das Städtchen Midhurst lag im Windschatten der Green Mountains, das College war ungefähr fünf Kilometer außerhalb der Ortschaft angesiedelt, als hätte man gefürchtet, dass die Hauptstraße mit ihren wenigen altmodischen Läden von

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