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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Laub der Ahornbäume an den Berghängen stand in Flammen. Der See verdunkelte sich, sein Wasser wurde schlammig und roch faulig. Dünnes Licht sickerte matt aus einem grauvioletten Himmel. Wenn sie im Wald spazieren ging, knackten die welken, froststarren Blätter unter ihren Füßen. Eis schob sich über den See und raubte dem Wasser seinen Glanz.
    Ihr gefielen die Unterschiede. Ihr gefielen die Melodie der Stimmen im Drugstore und im Café, das Zischen des Getränkespenders und die eigenartigen Formen der Kürbisse an den Straßenständen. Sie liebte es, morgens beim Erwachen die Berge zu sehen, und sie fand es spannend, dass sie nicht wusste, wohin die Straßen führten.
    Drei Monate lang plagte sie beinahe ständig die Übelkeit, dann fühlte sie sich drei Monate lang relativ wohl, und dann begannen ihre Füße und Fesseln anzuschwellen und ihre Finger blähten sich zu Würsten auf, worauf Dr. Fisher ihr absolute Ruhe verordnete. Marcus fuhr sie einmal in der Woche nach Midhurst zur Untersuchung; nachdem es zu schneien begonnen hatte, waren das ihre einzigen Ausflüge.
    In den kältesten Monaten lag sie auf dem Sofa am Fenster und beobachtete das Schneetreiben und die Vögel, die die Erdnüsse aufpickten, die sie ihnen hingestreut hatte. Sie schrieb an Sebastian, an Michael und Justine. Justine schickte ihr eines ihrer Gedichte, Sebastian erzählte ihr in langen, ernsthaften Briefen von seinem Leben auf dem Hof und den Sandersons sowie von einer jungen Frau aus dem Nachbardorf, die er kennengelernt hatte. Michael schickte ihr Ansichtskarten von Londoner Doppeldeckerbussen und dem Tower; India brauchte nur die Augen zu schließen, um die Reihen rußgeschwärzter Häuser vor sich zu sehen, die Menschenschlangen an den Bushaltestellen, das Geschiebe von Regenschirmen auf den Straßen, all die Dinge, die ihr vertraut waren.
    In diesen langen Stunden der Muße ging ihr alles Mögliche durch den Kopf. Sie fragte sich, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen sein würde. Ob es helles Haar haben würde wie sie oder schwarzes wie sein Vater. Und oft überlegte sie, ob sie den Handel bereute, den sie abgeschlossen hatte: Geborgenheit für Sebastian, Sicherheit und ein Leben ohne finanzielle Sorgen für sie und als Gegenleistung die Ehe mit Marcus Pharoah.
    Sie fragte sich, ob auch Marcus den Handel bereute. Sie vermutete, dass er, auch wenn er Alison vielleicht nie geliebt hatte, lieber eine Alison an seiner Seite gehabt hätte. Er brauchte eine Frau, die immer das Richtige sagte und mit den richtigen Leuten redete. Es gab die Liebe, es gab das Begehren, und es gab die Nützlichkeit. Alison war die nützliche Ehefrau gewesen, India war die begehrte. Der einzige Mensch, den Marcus Indias Meinung nach wirklich liebte, war Rowena.
    Sie fragte sich, ob er das Kind lieben würde. Seine Haltung ihr gegenüber hatte sich verändert, seit sie ihm gesagt hatte, dass sie schwanger war. Anfangs hatte sie geglaubt, er wäre ärgerlich, weil die Nachricht von ihrer Schwangerschaft Rowena so außer sich gebracht hatte. Mit der Zeit aber erwachte in ihr der Verdacht, dass die Schwangerschaft selbst der Grund für seine üble Laune war. Sie stritten sich häufiger; sie wusste, wie sie ihn reizen konnte, wie sie ihn mit einem Schulterzucken in Rage versetzen, wie sie ihn an seinen wunden Punkten treffen konnte, dem übersteigerten Bedürfnis nach Status und Anerkennung, nach Macht und Kontrolle. Marcus hatte eine Frau gewollt, die sich der Befriedigung seiner Bedürfnisse und der Förderung seiner beruflichen Karriere unterordnete; bekommen hatte er eine, die sich jedem Versuch, sie zu beherrschen, entwand.
    Wenn sie auf dem Sofa lag, schien die Stille sie einzuhüllen wie eine Decke. Die Bäume traten in den Nebel zurück, und ein schwerer grauer Schleier fiel über die runden Kuppen der Berge. Sie konnte stundenlang so liegen und zum Fenster hinausschauen. Alle Geräusche schienen gedämpft und ohne Echo. Sie war von Glaswänden umgeben, von einem Gehäuse aus Eis; wenn sie sprach, würde niemand sie hören. Es hätte sie nicht überrascht, wenn sie an sich hinuntergeblickt und entdeckt hätte, dass sie langsam unsichtbar wurde.
    Sie konnte sich später nicht genau erinnern, wann sie auf den Gedanken gekommen war, dass Roy Gosse sie beobachtete. Gosse fuhr Marcus, pflegte und wartete die Fahrzeuge,

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