Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
aufs Bett sinken. Das Kind wand sich wie ein Aal, der aus einer Felsspalte schlüpfte. India wartete, bis die Axtschläge wieder einsetzten. Dann stand sie mühsam auf, öffnete eine Schublade und nahm Handschuhe und ein Kopftuch heraus.
    Heute würde sie endlich einmal ausgehen. Der Schnee und Dr. Fishers Verordnung, absolute Ruhe zu halten, hatten sie wochenlang ans Haus gefesselt. Sie fühlte sich eingesperrt in seinen Mauern und von den kalten Wäldern, die es umgaben. Sie musste die laue Wärme dieser wässrigen Sonne auf ihrem Gesicht spüren; sie musste andere Stimmen hören.
    Das drei Kilometer entfernte Midhurst war der nächste größere Ort. Viel vorzuweisen hatte es nicht, eine breite, schnurgerade Hauptstraße mit ein paar Häusern, Tankstellen, Werkstätten und Lagerhäusern zu beiden Seiten. Aber India stellte sich vor, sie würde ein Weilchen in den Geschäften herumstöbern, vielleicht ein paar Kleinigkeiten einkaufen und sich dann ins Café setzen und mit den Leuten reden. Sie würde nicht lange bleiben, nur etwa eine Stunde, damit sie zurück war, bevor Marcus nach Hause kam.
    Rasch legte sie Lippenstift und Puder auf, knöpfte ihren Mantel bis zum Kragen zu, band sich das Kopftuch um und warf erneut einen Blick aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass Gosse noch beim Holzschuppen war. Vorsichtig, die Hand auf das Geländer gestützt, ging sie nach unten. Das Kind sollte in drei Wochen kommen, und sie hatte schwer an ihm zu tragen.
    Viola kam immer nur vormittags, India war also allein im Haus. Langsam ging sie von Zimmer zu Zimmer, um ihre Sachen einzusammeln – Handtasche, Autoschlüssel –, und holte dann ihre Stiefel aus der Garderobe. Sie setzte sich auf die Treppe, um sie anzuziehen. Der Reißverschluss ließ sich über ihren geschwollenen Fesseln nicht schließen, das pelzgefütterte Leder klaffte auseinander, es sah unmöglich aus.
    Sie stellte die Stiefel zurück und hievte sich noch einmal die Treppe hinauf. Das Dumme war, dachte sie, als sie oben keuchend stehen blieb, dass sie keine richtigen festen Schuhe hatte. Die Reihen hochhackiger Pumps und Riemchenschuhe starrten sie an wie Relikte aus einem anderen Leben. Sie fand ein Paar Schnürschuhe, die Marcus ihr zum Wandern gekauft hatte, als sie sich kurzzeitig vorgestellt hatten, sie würden forsch ausschreitend die Gegend erkunden, presste ihre Füße hinein und schaffte es, die Bänder zu schnüren.
    Das fortgesetzte Geräusch der Axtschläge war beruhigend. Als sie wieder unten war, konnte sie ihre Handtasche nicht finden, sie musste sie wohl in ihrer Zerstreutheit irgendwo abgelegt haben. Bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend, machte sie sich auf die Suche. So ein großes Haus hatte auch seine Nachteile, es bot viel zu viel Gelegenheit, Dinge zu verlegen.
    Sie fand die Tasche vorn im Wohnzimmer und blieb einen Moment in der wärmenden Sonne stehen, die durchs Fenster schien, um Atem zu holen und sich zu überlegen, wie sie sich am besten aus dem Haus stahl. Auf dem Weg von der Haustür zum Vorplatz, wo die Autos standen, gab es ein kurzes Stück, auf dem Gosse sie vom Holzschuppen aus sehen konnte. Sicherer war es, außen herum zu gehen, auf der Straße, wo die Bäume entlang des Einfassungszauns sie verbergen würden.
    Von der kleinen hinteren Diele aus, in der sie Sturmlaternen und Kerzen aufbewahrten, schlüpfte sie durch eine Seitentür hinaus. Es war noch kalt, aber in der Luft lag ein milder Hauch, der an Frühling denken ließ. Vorsichtig, Schritt für Schritt, tappte India über die glitschigen Pflastersteine des kurzen Wegs, der zur Straße führte. Auf der anderen Seite lagen Wiesen mit vereinzelten kahlen, trist braunen Bäumen. Höchst selten sah man ein Fahrzeug auf dieser Landstraße, die nur zu Gehöften und kleinen, unbedeutenden Weilern führte, und India war sicher, dass sie die kurze Strecke bis Midhurst ohne Schwierigkeiten würde bewältigen können. Marcus hatte ihr im letzten Sommer, vor Rowenas Besuch, das Autofahren beigebracht. Während ihrer Flitterwochen, wie sie diese Zeit bei sich zynisch bezeichnete.
    Das Schmelzwasser hatte neben der Straße große Pfützen gebildet, und die aus Erde aufgeschütteten Bankette hatten sich in Schlamm aufgelöst. India tastete sich angespannt eine matschgefüllte Furche entlang, voller Angst,

Weitere Kostenlose Bücher