An einem Tag im Winter
erinnerte. Rückblickend hatte sie das Gefühl, India kaum gekannt zu haben. India hatte sich an sie gehängt, und sie hatte â vielleicht, weil sie die Last unerwünschter Verpflichtungen scheute â immer Abstand zu ihr gehalten.
Aber eine Verpflichtung hatte sie dennoch. Sie war diejenige, die India mit Marcus Pharoah bekannt gemacht hatte. Das will ich haben, und das bekomme ich auch , so hatte sie Pharoahs Grundhaltung zum Leben eingeschätzt. Sie fragte sich, ob er dieses Prinzip auch bei seinem Bemühen um India verfolgt hatte oder ob India die treibende Kraft gewesen war. Wie auch immer, die beiden würden ein hochexplosives Paar abgeben.
Sie wollte versuchen, India über Marcus Pharoah auf die Spur zu kommen, und sprach deshalb mit Jerry Collins, ihrem Professor. »Sie wissen, dass er Gildersleve Hall geschlossen hat?«, erkundigte sich Jerry. Offenbar hatte er ihr diese Neuigkeit bislang verschwiegen, weil es ihm ein zu heikles Thema zu sein schien. Ellen fragte ihn, ob er wisse, was aus Pharoah geworden war. »Der ist in Amerika, soviel ich weië, antwortete er. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wo. Mit dem Mann bin ich nie warm geworden.«
Sie hakte weiter nach, bei Kollegen und Bekannten, und erfuhr, dass Pharoah einen Posten an einem kleinen College in Neuengland angenommen hatte und inzwischen mit India verheiratet war. India hatte England als Pharoas Ehefrau verlassen. Im ersten Moment konnte Ellen es nicht glauben. Schwer, sich vorzustellen, dass India überhaupt jemanden heiraten würde, aber unmöglich, sich vorzustellen, dass sie ausgerechnet Pharoah geheiratet hatte und nun die Rolle der perfekten Hausfrau und Gastgeberin ausfüllen sollte, der Alison so tadellos gerecht geworden war. Und was war mit Sebastian? Ellen hatte India vielleicht nie verstanden, aber sie zweifelte nicht an ihrer Liebe und Loyalität zu ihrem Bruder. Was war aus ihm geworden? Hatte India ihn nach Neuengland mitgenommen? Lebte er zusammen mit dem glücklichen Paar in Vermont mit seinen Laubwäldern und Seen?
Eines Tages lief ihr bei einer Konferenz in Manchester Martin Finch über den Weg. Am Abend aÃen sie zusammen Chinesisch im Ping Hong. Martin erzählte ihr, dass seine Frau ein Kind erwartete, und dann brachte Ellen das Gespräch auf Pharoah. Martin, der so gern klatschte, war in seinem Element. Der Mann, erklärte er, habe sich zum allgemeinen Gespött gemacht. Er habe doch tatsächlich so ein junges Ding geheiratet, das gerade mal halb so alt sei wie er. Alles, was recht sei, aber damit â Martin tat, als rammte er sich ein Messer ins Herz â habe er sich praktisch selbst den Todesstoà gegeben.
Im Zug zurück nach London überlegte Ellen, dass sie nichts über Indias Beweggründe erfahren hatte, Pharoah zu heiraten, und ebenso wenig darüber, was ihn zu der Heirat bewogen hatte. Ob diese Ehe aus Liebe oder Besitzgier oder Verzweiflung geschlossen worden war. Sie wusste nur, dass es kein sauberes Ende gab. Dass man nie sagen konnte, wozu man selbst fähig war, geschweige denn die anderen. Von der kurz aufgeflammten Freundschaft zwischen ihr und India war wenig geblieben auÃer Erinnerungen und Unbehagen. Eine zufällige Begegnung in einer Buchhandlung, der Kauf eines korallenroten Sommerkleids, ein Tanz in einer Küche, während drauÃen die Bäume grünten.
Teil III
Vermont
1957Â â 1959
11
DAS GERÃUSCH V ON GOSSES AXTSCHLÃGEN brach sich an den Bäumen auf der anderen Seite des kleinen Sees. India, die aus dem Schlafzimmerfenster schaute, bemerkte, dass nur noch auf den fernen Bergen Schnee lag, er bedeckte ihre runden Kuppen wie weiÃer Zuckerguss. Das Tauwetter hatte die Fahrwege in tiefe Furchen zähen Schlamms verwandelt, der in der schwachen Wintersonne glänzte. Auf den FuÃwegen neben dem Haus und rund um den See war der Matsch von Stiefelabdrücken durchsetzt.
Wenn sie sich an die Ecke des Fensters stellte, konnte sie Gosse beim Schuppen am See erkennen. Die Axt schwang abwärts, ihre Klinge blitzte im Licht auf, bevor sie schwer in das Holz fiel. Gosse bückte sich, um die gespaltenen Scheite aufzuheben und in den Schubkarren zu werfen. Dann richtete er sich auf, wischte sich mit dem Handrücken die Stirn und schaute sich um.
India trat schwerfällig einen Schritt vom Fenster zurück. Eine Hand auf der Wölbung ihres Bauches, lieà sie sich
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