An einem Tag im Winter
gesellig, aber zu Beginn unserer Bekanntschaft hatte er immerhin noch einige nahe Freunde.«
»Dr. Pharoah.«
»Ja, Pharoah, über viele Jahre. Und es gab eine Frau in seinem Leben.«
»Eine Freundin?«, fragte sie ungläubig.
»Ja, in London. Er hat sie jeden Monat besucht. Einmal saÃen wir im selben Zug nach London. Als wir ankamen, stellten wir fest, dass wir beide in dieselbe Richtung mussten, und sind zusammen weitergefahren.«
»Und er wollte seine Freundin besuchen? Das hat er Ihnen erzählt?«
»Nicht direkt. Wenn ich mich recht erinnere, hat er überhaupt nichts gesagt. Aber ich habe es erraten und ihn sogar ein wenig geneckt.«
Ellen, die jetzt völlig verwirrt war, dachte wenigstens noch daran zu fragen: »Wohin sind Sie damals gefahren, Dr. Kaminski? In welche Gegend von London?«
»Finsbury Park«, antwortete er. »Woodstock Road.«
Anstatt die direkte Route nach London zu nehmen, machte Ellen einen Abstecher nach Copfield. Ihr Weg führte sie an Mrs. Bryants Bungalow vorbei ins Dorf, wo sie das Green Man und die Kirche passierte und dann durch das Haselwäldchen die ansteigende StraÃe hinauffuhr, die nach Gildersleve Hall führte. Die Hecken waren dicht belaubt, und ihr fiel auf, dass sie Gildersleve nie im Sommer gesehen hatte, ihre Erinnerungen beschränkten sich auf die froststarre Monotonie des Winters.
Oben angekommen, bremste sie ab und blickte hinunter. Als sie Gildersleve Hall erkennen konnte, hielt sie am StraÃenrand an und stieg aus. Zerstreut brach sie einen Haselzweig ab, während sie hinabschaute. Einen Moment lang schien das Haus unverändert, beinahe als wartete es darauf, dass Martin Finch in flottem Schritt die Treppe hinunterlaufen oder Bill Farmborough mit der Aktenmappe unter dem Arm aus der Tür treten würde.
Sie hatte an diesem Tag gelernt, welche Folgen Verrat nach sich zog. Pharoah hatte Alison verraten, und der Schmerz und die Bitterkeit darüber waren ihr immer noch anzusehen. Er hatte Dr. Redmond und Dr. Kaminski verraten, ihre Bewunderung und ihre Freundschaft für seine eigenen Zwecke ausgenutzt. Einst hatten die drei Männer gemeinsame Pläne für eine aufregende Zukunft geschmiedet; jetzt war Redmond lange tot, Pharoah war auÃer Landes gegangen, und Kaminski war beschämt und desillusioniert allein zurückgeblieben.
In Gildersleve hatte sie die Wahrheit nicht sehen können. Bei ihrem Tasten im Dunkeln war sie gegen Mauern geprallt, errichtet vom Ehrgeiz und vom egoistischen Streben der anderen. Nun aber konnte sie sehen, und jetzt, auf den zweiten Blick, schien Gildersleve Hall, Mauern und Turm unter wild wucherndem Efeu begraben, kaum mehr zu sein als eine leblose Kulisse, ein Relikt einer verstaubten und ehrlosen Vergangenheit.
Als sie am Morgen das Auto bei Riley abgeholt hatte, hatte er sich zu ihr in den Wagen gesetzt und ihr die Funktionen der verschiedenen Armaturen gezeigt. Bei jeder Berührung hatte sie seine Wärme und seine Nähe intensiv gespürt. Körperliche Berührung verfügte über ihre eigenen wunderbaren Kräfte, zündende Kräfte, die zwischen den Worten wirkten. Eine Berührung zeigte einem das eigene Begehren. Sie zeigte einem das Begehren des anderen. Bevor sie sich trennten, hatte er zu ihr gesagt: »Bist du sicher, dass du das willst? Bist du sicher, dass du dorthin zurückwillst?«, und sie hatte bejaht. Als sie sich jetzt wieder ins Auto setzte, wusste sie, dass sie das Richtige getan hatte.
In den drei Monaten in Gildersleve hatte ihr Leben eine entscheidende Wende genommen, und jetzt stand sie erneut vor einer Entscheidung. Sie beide hatten aus früheren Beziehungen Verletzungen davongetragen. Keiner von ihnen, dachte sie, nahm die Liebe leicht. Riley war vor dem Gesetz noch mit Pearl verheiratet. Sie selbst hatte mit den alten Vorbehalten zu kämpfen, ihren Zweifeln daran, ob Ehe und Beruf unter einen Hut zu bringen waren, ihrer Angst davor, alles zu gefährden, was sie sich so hart erworben hatte.
Und trotzdem war sie, als sie wieder in den Wagen stieg, voller Optimismus. Ihre Freundschaft hatte sich trotz aller Widrigkeiten gefestigt und vertieft. Sie würden miteinander zurechtkommen, dachte sie. Nein, das war das falsche Wort, konnte sie sich ein Leben ohne ihn doch nicht mehr vorstellen. Er war in ihren Gedanken und in ihrem Herzen verwurzelt. Für eine glückliche Partnerschaft â
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