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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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er die Augen, und seine Wimpern streiften die ihren, so leicht wie sanfter Flügelschlag, bevor ihre Körper sich zu vertrautem, wohligem Spiel zusammenfanden, ohne dass einer von ihnen etwas sagte.
    Garrett verdiente sein Geld mit einer ganzen Reihe verschiedener Tätigkeiten. Neben der Jazzband kümmerte er sich um ein halbes Dutzend Wohnungen, die ein Freund von ihm verwaltete, führte dort anfallende Reparaturen aus und kassierte die Miete. Außerdem handelte er mit Antiquitäten. Ihre Tante Rachel, die etwas von Antiquitäten verstanden hatte, hätte seine Waren als Trödel bezeichnet, aber Garrett liebte sein angeschlagenes Steingut aus Staffordshire und seine dilettantischen Ölgemälde. (»Ein schönes Stück. Ich behalt’s, bis es im Wert steigt.« Garretts Wohnung war voll von Dingen, die auf eine Wertsteigerung warteten.) Hin und wieder lieferte er Autos an Autowerkstätten oder Privathäuser in weit verstreuten Teilen des Landes. Zweimal hatte India ihn begleitet, einmal auf einer Fahrt zu einem imposanten Herrensitz in Chester, ein andermal zu einer Werkstatt in Southampton. Als sie auf dem Weg nach Southampton durch Hampshire gefahren waren, hatte sie gespannt darauf gewartet, ob sie vielleicht zufällig auf das Haus im Wald stoßen würden. Eigentlich wollte sie Garrett davon erzählen, ließ es dann aber, zum einen, weil sie sich nicht erinnern konnte, wo genau es gestanden hatte, zum anderen, weil es ihr schwerfiel zu glauben, dass es überhaupt noch existierte – oder je existiert hatte. In ihrer Erinnerung war es wie ein Traum. Ein Albtraum.
    Mit dicken Lockenwickeln im leicht krausen Haar setzte sie sich an den Toilettentisch. Die Leute glaubten immer, sie bleiche sich die Haare, weil sie so hell waren, aber das stimmte nicht, sie spülte sie nur regelmäßig mit Zitrone, damit sie keinen Gelbstich bekamen. Sie neigte sich dicht an den Spiegel, zog die Lippen zu einem Schmollmund zusammen und senkte die Lider über den blauen Augen, um ihnen einen lasziven Ausdruck zu verleihen. Das Gesicht, das sie aus dem Spiegel anblickte, war ein Bild schläfriger Verlockung. Die anderen – die Männer – sagten, sie sei schön, aber sie selbst konnte das nicht immer sehen. Manchmal, wenn sie vor dem Spiegel saß, dachte sie: Ja, nicht übel. Aber oft fand sie ihr Gesicht so fade und reizlos wie Grießbrei. Ein leerer Kreis mit ein paar Löchern, wo Augen, Nase und Mund hingehörten.
    Sie kippte etwas flüssiges Make-up auf ein Schwämmchen und verteilte es auf ihrer Haut. Dann Puder – sie musste die Quaste unter die Ränder ihrer Puderdose schieben, um die letzten krümeligen Reste herauszubekommen –, mit dem sie Wangenknochen und Kinn betonte, bevor sie das Werk mit ein paar schnellen kleinen Tupfern abrundete. Sie hatte die Kurzsichtigkeit ihrer Mutter geerbt und musste, um den feinen Lidstrich zu ziehen, den sie an den Außenwinkeln etwas aufwärts schwang, noch dichter an den Spiegel heranrücken. Als das geschafft war, spuckte sie in das Kästchen mit der Wimperntusche, rubbelte mit dem Bürstchen darin herum und färbte ihre hellen Wimpern dunkel. Augenbrauenstift, dunkelroter Lippenstift, dann nahm sie mit zusammengebissenen Zähnen die ziependen Wickel aus dem Haar und legte die pinkfarbenen, stacheligen Plastikdinger auf den Toilettentisch zu dem Durcheinander aus Make-up-Flaschen und Parfumflakons, Armreifen und Schminktüchern. Als sie die Haare durchkämmte, sah sie befriedigt, dass die Krause heraus war. Seidenglatt fielen die Locken auf ihre Schultern herab, so hell wie das weiße Satinkleid.
    Sie zündete sich eine Zigarette an und ging zum Fenster, das zum Garten hinter dem Haus hinausblickte. Rachels Wohnung – für sie war es immer noch Rachels Wohnung, obwohl Rachel vor sechs Jahren gestorben war – lag in einer Seitenstraße der Tottenham Court Road. Eines der Gebäude gegenüber war im Krieg von einer Bombe getroffen worden, und India erinnerte sich, wie sie aus den Schulferien nach Hause gekommen war und den Riesenkrater mit all dem Staub und Schutt gesehen hatte. In der Lücke, die die Bombe gerissen hatte, stand jetzt eine Tankstelle, aber daneben war immer noch ein schmales Trümmergrundstück. India sah einen großen silbernen Wagen in die Tankstelle hineinfahren. Ein Junge kam aus dem Kassenhäuschen, füllte

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