An einem Tag im Winter
zu ihrem Fahrrad.
Teil II
London
1954Â â 1956
3
DA SIE VIEL UNO RDENTLICHER WAR ALS Sebastian, hatte sie das Schlafzimmer für sich. Sebastian schlief auf der Wohnzimmercouch und räumte jeden Morgen gewissenhaft das gefaltete Bettzeug auf. Seine Anziehsachen, ein ziemlich karges Sortiment, eine Garnitur für gut und eine für die Gartenarbeit, nahmen sich im Schrank blass und schüchtern aus neben der Fülle von Indias Kleidern, die ihren eigenen Kopf zu haben schienen und mit Vorliebe von den Bügeln rutschten und sich in den Türspalt klemmten, sodass man den Schrank nicht schlieÃen konnte, gerade so, als passte es ihnen nicht, im Dunkeln eingesperrt zu sein.
Die Wohnung hatte ihrer Tante Rachel gehört, die sie gerettet hatte. Das war Indias Wort dafür: gerettet, ohne Anführungszeichen. Als sie bei Tante Rachel eigezogen waren, hatte sie India und Sebastian ihr Schlafzimmer überlassen und selbst auf dem Sofa kampiert. India hatte in Tante Rachels Bett geschlafen und Sebastian auf einem Feldbett, aus dem er nachts allerdings oft zu India hinübergekrochen war. Später, als sie älter wurden, brachte Tante Rachel aus einem Antiquitätengeschäft einen Paravent nach Hause und stellte ihn zwischen den Betten der Geschwister auf, damit jeder ein eigenes kleines Reich hatte, wie sie sagte. Der Paravent, in sogenannter Decoupage-Technik dekoriert, war über und über mit Bildern beklebt, die aussahen, als wären sie aus Zeitschriften ausgeschnitten worden â junge Damen mit Schutenhüten oder unter Sonnenschirmen, Kinder mit groÃen Augen und rosigen Wangen â, und diese ganze Collage war mit Lack überzogen.
India hatte sämtliche Abendkleider anprobiert, die sie besaÃ, und sich schlieÃlich für ein weiÃes Satinkleid entschieden, das sie auf dem Markt in der Berwick Street ergattert hatte. Sie putzte es mit einem SträuÃchen kobaltblauer Blumen aus wachsverstärktem Papier heraus, das sie sich an den Ausschnitt steckte. Accessoires sind wichtig, hatte ihre Mutter immer gesagt, während sie beim Anstecken ihrer Ohrringe kurzsichtig in den Spiegel blinzelte. Ein Dutzend Kleider lag auf dem Bett; andere waren auf den Boden gerutscht, taubenblau, korallenrot, butterblumengelb, das ganze Zimmer war bunt wie eine Sommerwiese. Die Farbenpracht erinnerte India an den Laden für Künstlerbedarf am Piccadilly, in dem sie arbeitete. Es war ihr von all den Aushilfsstellen, in denen sie sich bisher versucht hatte, bei Weitem die liebste. Sie mochte den Geruch im Laden, eine Mischung der Düfte von Wachs, Leinöl und Papier. Pastellstifte und Aquarellkreiden lagen, geordnet wie die Farben des Regenbogens, unter feinem Seidenpapier in ihren Schachteln. Die Namen auf den Bauchbinden waren so schön wie die Farben selbst: Zinnober, Kirsche, Ultramarin, Türkis.
Der Laden führte auch Buchbinderpapiere, mit wirbelnden Mustern in Bernsteingelb, Rostbraun und Pfauenblau wie die gefrorenen Wellen eines Flusses. Kunden kamen in den Laden und kauften einen Bogen marmoriertes Papier oder einen Kanister Terpentin und einen dünnen Zobelpinsel. Hier im Laden war India ihrem Freund Garrett begegnet. Garrett war kein Maler; er hatte Kartuschenpapier gesucht, aus dem er Werbeplakate für eine Jazzband fertigen wollte. Er vertrat die Band, was ziemlich beeindruckend klang. Später allerdings entdeckte India, dass Garrett in Wirklichkeit Pubs und Nachtklubs abklapperte und die Wirte zu überreden versuchte, die Band in ihrem Lokal spielen zu lassen.
Garrett Parker war dreiundzwanzig, ein Jahr älter als India, und kam aus einer Kleinstadt in Leicestershire (»tiefste Provinz«). Er war mittelgroà und kräftig gebaut und hatte ein liebenswert verschmitztes Lächeln. Wegen seines dunklen Teints, der schwarzen Haare und der tiefbraunen Augen hielten die Leute ihn manchmal für einen Italiener. India wusste, dass Garrett, der einen Blick für das Besondere hatte, der Kontrast zwischen ihnen gefiel, sie weizenblond und hellhäutig, er dunkel und fremdländisch wirkend. Sie selbst störte es auch nicht, im Gegenteil, sie fand, sie gäben ein ziemlich schönes Paar ab. An diesem Morgen im Bett hatte sie sich bemüht, still zu liegen, um Garrett nicht zu wecken, aber nach ein paar Minuten war ihr langweilig geworden, und sie war dichter an ihn herangekrochen und hatte ihn geküsst. Blinzelnd öffnete
Weitere Kostenlose Bücher