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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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erschüttert, Ellen, aber ich fand, Sie müssten Bescheid wissen.«
    Â»Er erschüttert mich zutiefst.« Sie sah ihn an. »Sie haben ihn gelesen und mir trotzdem eine Chance gegeben. Warum?«
    Â»Ich finde, jeder sollte eine zweite Chance bekommen.« Ein Lächeln belebte die müden braunen Augen. »Ich habe selbst einige Male das Glück gehabt, dass mir eine zweite Chance gegeben wurde. Nach unserem ersten Gespräch hatte ich einen ausgesprochen guten Eindruck von Ihnen, und ich habe mich immer schon am liebsten auf mein eigenes Urteil verlassen. Zum Glück bin ich mit dem Leiter der Abteilung, in der Sie in Bristol tätig waren, persönlich bekannt. Ich habe mit ihm gesprochen, und er hat ein ganz anderes Bild von Ihren Fähigkeiten gezeichnet. Ich gebe zu, dass ich Ihre Arbeit mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt habe, bis ich das Gefühl hatte, mich auf Sie verlassen zu können.« Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Pharoah kann sehr rachsüchtig sein.«
    Â»Sie kennen ihn?«
    Â»Flüchtig. Wir sind nicht besonders gut aufeinander zu sprechen.«
    Ellen stand auf und gab ihm die Hand. »Danke, dass Sie mit mir gesprochen haben«, sagte sie. »Und danke, dass Sie an mich geglaubt haben.«
    Auf dem Weg zum Bus gingen ihr Pharoas vernichtende Worte unablässig im Kopf herum. Miss Kingsley zeigte eine nachlässige Einstellung zu ihrer Arbeit, die Ausführung ließ stark zu wünschen übrig, und ihr methodischer Ansatz war häufig verfehlt. Es hätte ihrer Arbeit ohne Zweifel gutgetan, wenn sie weniger Zeit darauf verwendet hätte, mit den männlichen Mitarbeitern zu flirten. Mit kühlem Kopf unterzog sie ihre dreimonatige Tätigkeit in Gildersleve Hall einer nüchternen Analyse und kam zu dem Schluss, dass nicht ein Wort davon stimmte.
    Jeder mögliche Arbeitgeber hätte sie nach der Lektüre dieser Beurteilung augenblicklich von seiner Kandidatenliste gestrichen, nur Professor Maliks persönlicher Bekanntschaft mit ihrem Abteilungsleiter in Bristol und seiner Abneigung gegen Marcus Pharoah, aus der er kaum ein Hehl gemacht hatte, war es zu verdanken, dass sie überhaupt Arbeit gefunden hatte. Wo wäre sie jetzt, hätte ihr nicht das Glück in die Hände gespielt? Wahrscheinlich zu Hause bei ihren Eltern, vielleicht immer noch auf der Suche und mittlerweile bereit, die Wissenschaft zu vergessen.
    Kein Wunder, dass sie sechs Monate gebraucht hatte, um eine neue Anstellung zu finden, wenn Marcus Pharoah so auf die Anfragen von Leuten geantwortet hatte, die an ihrer Mitarbeit interessiert gewesen waren. Und sie wäre vielleicht ihr Leben lang in dem Glauben geblieben, nicht überzeugend genug bei den Bewerbungsgesprächen zu sein oder dass ihr der Zugang zu einer wissenschaftlichen Tätigkeit allein deshalb verwehrt blieb, weil sie eine Frau war. Die Zeit wäre vergangen, und bald hätte sich eine durch nichts zu vertuschende Leerstelle in ihrem Lebenslauf aufgetan, für die es keine akzeptable Erklärung gab.
    Warum hatte Pharoah das getan? Wozu hatte er sich diese Mühe gemacht? Sie war doch nur ein kleines Rädchen gewesen! Wenn er mit ihrer Arbeit in Gildersleve Hall wirklich nicht zufrieden gewesen war, warum hatte er sie dann nicht einfach mit ein paar nichtssagenden Worten abgeschoben, die ihr erlaubt hätten, ihre Karriere dennoch weiterzuverfolgen? Was er getan hatte, hatte einen starken Beigeschmack von Gehässigkeit und Böswilligkeit. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihr je etwas Ähnliches passiert war. Was für eine Niederträchtigkeit! Marcus Pharoah hatte sie verletzen wollen. Er hatte sie vernichten wollen. Aber warum?
    Einmal, im Herbst 1952, hatte sie an einer Konferenz an einem der Londoner Colleges teilgenommen und einem Bekannten gegenüber ihre Tätigkeit in Gildersleve Hall erwähnt. Ach , hatte er gesagt, dann bist du jetzt einer von Marcus Pharoahs braven Vasallen. In der Rückschau erkannte sie, wie passend dieser Ausdruck war. Ein Wort von Pharoah, und sie waren alle gesprungen. Unmöglich, sich vorzustellen, dass er sich jemals mit Ratlosigkeit, Schuldgefühlen oder Scham herumschlug. Nur einmal während ihrer Zeit in Gildersleve Hall hatte er einen Anflug von Selbstzweifeln gezeigt. Was hatte ich damals für Träume und Ambitionen, hatte er in der Hotelbar in Cambridge zu ihr gesagt. Aber vielleicht waren selbst

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