An einem Tag im Winter
versorgen, wenn es ihr nicht gut ging. Aber es war ohnehin eine scheuÃliche Schule, wo es kaum Bücher gab und man ständig in die Kirche gehen musste. Die anderen Jungen und Mädchen, robuste Landkinder mit vernünftigen, herkömmlichen Namen wie Mary und Joan oder Bill und Peter, hänselten India und Sebastian wegen ihrer ausgefallenen Namen und ihrer Ausdrucksweise. Sebastian hasste die Schule und weinte jeden Morgen, wenn India ihn zwang hinzugehen, auÃerdem konnte er schon lesen, und wenn es ihn glücklich machte, bei ihrer Mutter zu bleiben und im Garten zu spielen, warum sollte sie ihn dann nicht zu Hause lassen, anstatt ihn heulend die StraÃe hinaufzuzerren?
India hoffte immer, Neil würde zurückkommen, aber er kam nicht. Oft vergingen Wochen, ohne dass sie jemand anderen zu Gesicht bekamen als Mrs. Day in ihrem Laden. Das Haus begann schmuddelig auszusehen, und Sebastian wuchs aus all seinen Sachen heraus. Hin und wieder raffte Cindy sich auf, die Wäsche zu machen, und trug das ganze schmutzige Zeug in den Keller hinunter, wo sie es einweichte und durch die Mangel drehte. Aber dann fiel ihr etwas anderes ein, und sie lieà alles stehen und liegen, um ein Buch zu lesen oder sich auf die Terrasse zu setzen und eine Zigarette zu rauchen. Manchmal stieà India Tage später im Waschraum oder im Garten auf einen verlassenen Korb Wäsche, die noch feucht war und einen unangenehmen Geruch verströmte. »Ach Gott, wenn ich doch nur eine bessere Hausfrau wäre«, sagte Cindy dann, während sie ein Unterhemd von Sebastian herauszog und daran roch.
India wusste, dass sie ihrer Mutter im Haushalt keine groÃe Hilfe war. Sie bemühte sich, aber es war schwierig, an alles zu denken und immer etwas zum Mittag- und Abendessen dazuhaben, zumal es in den Geschäften so wenig zu kaufen gab. Sie suchte Rat in Cindys Kochbuch, aus dem sie erfuhr, wie man Gerichte mit Namen wie Steak Diane und Seezunge Müllerin Art zubereitete, aber bei Mrs. Day gab es kein Steak und keine Seezunge. Cindy schrieb »Frühstücksfleisch« oder »Dosenerbsen« auf den Einkaufszettel, aber selbst diese Dinge gab es nicht immer.
Mrs. Day versuchte, India beizubringen, ihre Lebensmittelmarken klug zu gebrauchen, aber Mrs. Day sagte auch Sätze wie: »Deine Mutter kann daraus mit einem Stück Hammel vom Metzger einen schönen Eintopf machen«, oder: »Sag deiner Mutter, sie soll den Kohl in einer Fischpastete verwenden.« Dem entnahm India, dass Mrs. Day glaubte, ihre Mutter erledige den gröÃten Teil ihrer Einkäufe in Andover, der nächstgelegenen Stadt. Sie verriet Mrs. Day nicht, dass ihre Mutter seit Weihnachten nicht mehr in Andover und daher auch weder bei einem Metzger noch bei einem Fischhändler gewesen war; sie hatte das Gefühl, dass das als Mangel betrachtet werden würde, als ein Zeichen dafür, dass bei ihnen nicht alles in bester Ordnung war. India begann zu fürchten, dass eines Tages jemand kommen würde, irgendeine Autoritätsperson, ein Lehrer vielleicht oder ein Polizeibeamter, um bei ihnen nach dem Rechten zu sehen und gegebenenfalls etwas zu unternehmen. Deshalb sagte sie nur: »Ja, Mrs. Day, ich richte es Mama aus.« Früher war India selbst ab und zu mit dem Bus in die Stadt gefahren, aber seit einiger Zeit hatte sie Angst, Sebastian länger mit ihrer Mutter allein zu lassen, und es war so mühsam, mit ihm einkaufen zu gehen. Er quengelte ständig und konnte ihr nicht einmal beim Tragen helfen, weil er noch zu klein war.
Auch dass sie immer weniger Geld hatten, machte India Angst. Sie holte jede Woche die Witwenpension ihrer Mutter beim Postamt ab, das gleich neben Mrs. Days Laden war. Stets erledigte sie eins nach dem anderen: Zuerst holte sie das Geld ab, dann kaufte sie ein, Briefmarken und Zigaretten für Cindy, Milch für Sebastian, Brot und Kartoffeln für sie alle. Wenn das Geld für die Miete weggelegt war, blieb fast nichts übrig. Manchmal öffnete ihre Mutter ihr Portemonnaie und schaute ungläubig hinein.
India fand ihre eigenen Lösungen. Zuerst nahm sie das Geld aus ihrer eigenen Sparbüchse. Dann räuberte sie die von Sebastian â er gab nie etwas aus und zählte auch nie seine Ersparnisse, er würde also nichts merken. Dann begann sie, im Laden zu stehlen. Anfangs nur Kleinigkeiten, um ihre Mutter aufzuheitern: ein Band, ein Päckchen Haarnadeln, bunte Kreiden
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