An einem Tag im Winter
abgewehrt. »Es liegt an dir, India«, hatte sie gesagt. »Du kannst dein Leben so gestalten, wie du willst.« In Ellens Welt war immer alles klar und einfach.
India und Ellen saÃen in Ellens Zimmer, tranken Kakao und aÃen Kekse dazu. Ellen sprach von ihrem Freund, Simon Hacker, mit dem sie seit ein paar Wochen zusammen war. Er hatte ein Motorrad, auf dem sie durch die Stadt brausten, Ellen auf dem Sozius, wenn sie abends in ein Café oder ins Kino wollten, wo sie sich französische Filme ansahen. »Er hat schöne Augen«, sagte Ellen, »und man kann sich gut mit ihm unterhalten.«
India hatte Ellen mit einigen ihrer seriöseren Freunde bekannt gemacht, und dieser oder jener hatte sich prompt in sie verliebt, aber über stumme Anbetung war es nie hinausgegangen. Sie fühlten sich von Ellen eingeschüchtert â sie war zu distanziert, zu intellektuell, zu ernst, zu schön. India hatte sich schon oft gefragt, wie um alles in der Welt es kam, dass doch so viele Paare es schafften zu heiraten. Man begegnete so selten einem Mann, der alles hatte. Der eine war vielleicht zum Ausgehen ganz amüsant, der andere gut im Bett, der dritte hatte Geld und so weiter und so fort. Aber früher oder später rutschte dem Mann zum Ausgehen heraus, dass er eine Frau und Kinder in Acton hatte, und der Mann mit Geld entpuppte sich als Geizkragen, der jeden Penny zweimal umdrehte und ihr nicht einmal eine Tafel Schokolade gönnte. Oder er war, wie Garrett, gut aussehend, locker und witzig, aber ebenso verantwortungslos und unzuverlässig. Mrs. Maloney mochte India für unzuverlässig halten; Garrett war viel schlimmer. Er brachte es fertig, wochenlang zu verschwinden, ohne ihr auch nur eine Postkarte zu schicken, und mehr als einmal hatte sie Stunden in einer Bar gesessen und auf ihn gewartet, bis sie am Schluss mit irgendeinem Wildfremden etwas getrunken hatte.
Als India Ellen fragte, ob sie glaube, dass Simon Hacker sie liebte, machte Ellen ein erschrockenes Gesicht, woraus India schloss, dass er sie vielleicht liebte, sie ihn aber sicher nicht. Sie verstand genau, was Ellen empfand, sie kannte das. Jedes Mal, wenn ihr ein Mann beteuerte, dass er sie liebte, fielen ihr plötzlich alle seine Schwächen auf. Es war beinahe so, als zeigte er eben dadurch, dass er sie ausgewählt hatte, seinen schlechten Geschmack und verlöre damit alles Begehrenswerte.
Nach einer Weile hörte Ellen auf, über Simon Hacker zu reden. India schlug vor, am nächsten Abend ins Kino zu gehen, sie könnten sich doch Die barfüÃige Gräfin anschauen, aber Ellen erklärte, sie habe keine Zeit, sie wolle zu einem Vortrag.
»Ich komme mit«, erklärte India spontan.
Davon hielt Ellen nichts, es sei ein wissenschaftlicher Vortrag, jemand, den sie kenne, halte ihn, und India würde sich nur langweilen. India war beleidigt. Als Ellen es bemerkte, seufzte sie und lenkte ein. »Meinetwegen. Wenn du unbedingt willst.«
Sie langweilte sich wirklich. Die Royal Institution befand sich in einem Prachtbau in der Albemarle Street, und eine Zeit lang blickte sich India interessiert um. Die lange Fassade war mit Säulen geschmückt, drinnen empfingen sie Marmorböden und hallende Korridore. India war noch nie in einem Hörsaal gewesen. Die Sitzreihen stiegen in steiler Folge auf, und über ihnen hing ein Balkon, in dem noch mehr Zuhörer Platz fanden. Was für ein Aufwand, um einem Mann zuzuhören, der dort unten eine Stunde lang allein vor sich hin schwafelte!
Zuerst war es wie im Theater: die gespannte Erwartung, das wache Interesse, als der Redner aufs Podium trat, dann der Applaus, dem plötzliche Stille folgte. India, die Ellen versprochen hatte, still zu sitzen, hielt sich stocksteif. Der Mann auf dem Podium, groà und dunkel, attraktiv wie ein Filmstar, fesselte ein Weilchen ihre Aufmerksamkeit. Er hatte eine angenehme Stimme â eine Stimme wie dunkle Bournville-Schokolade, hätte Peachey gesagt.
Aber schon bald versetzten sie die Stille und das eintönige Geplätscher der einsamen Stimme in einen Zustand gereizter Anspannung. Ständig verspürte sie irgendwo ein Jucken, jedes Fältchen in ihrer Kleidung störte sie. Sie begann zappelig zu werden, zupfte an ihrem Rock, zog erst den einen, dann den anderen Strumpf hoch. Ellens Augenbrauen gingen in die Höhe, und India bemühte sich krampfhaft, wieder still zu sitzen. Verstohlen,
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