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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Mutter im Haus umhergehen zu hören, den beinahe lautlosen Hauch einer kalten Hand, die das Treppengeländer hinunterglitt, das Knarren einer Tür, das leise Aufseufzen eines Kissens, als ihre Mutter sich auf dem Sofa niederließ. Still und starr lag India in der Dunkelheit und wartete auf die ersten Takte von »My Funny Valentine«. Dann zog sie sich die Decke über den Kopf und steckte die Finger in die Ohren.
    Als sie am nächsten Morgen erwachte, war ihr viel wohler. Ihrer Mutter würde es jetzt wieder gut gehen, sie würde ihr Geld geben, damit sie etwas zu essen einkaufen konnte. India tappte den Gang entlang zum Zimmer ihrer Mutter.
    Aber nichts hatte sich verändert. Das Gesicht ihrer Mutter sah seltsam aus, als hätte sich die Haut über den Knochen gestrafft. India konnte sich kaum überwinden, sie zu berühren. Als sie es doch wagte, spürte sie immer noch die Kälte.
    Â»Mami?« India fuhr herum, als sie das dünne Stimmchen hörte. »Geh weg!«, schrie sie Sebastian an, der an der Tür stand. »Komm ja nicht rein.« Er rannte weinend davon.
    Diesmal brauchte sie unendlich lange, um ihn zu beruhigen, und dann war er den ganzen Vormittag über so sonderbar. Beim Frühstück versuchte sie, ihn zu überreden, doch wieder mit seinen Tieren Teekränzchen zu spielen, aber er schüttelte den Kopf und blieb mit dem Daumen im Mund und seiner Giraffe im Arm im Gras sitzen. Sie fragte sich, ob er vielleicht krank war, wie ihre Mutter. Die andere Möglichkeit ängstigte sie zu sehr, um auch nur daran zu denken. Jedes Mal wenn sie ihr in den Sinn kam, wurde ihr Kopf ganz leer.
    Am Ende holte sie Sebastians Bücher und las ihm vor. Während sie las, überlegte sie krampfhaft, was sie tun sollte. Ihr fiel ein, dass sie den Arzt anrufen könnte, und sie ärgerte sich, dass sie daran nicht früher gedacht hatte.
    India erlaubte Sebastian, mit den Kochtöpfen im Sand zu spielen, was sonst streng verboten war, und suchte in dem kleinen Notizbuch in der Küche, in dem ihre Mutter sich immer Listen machte, nach der Telefonnummer des Arztes, aber sie stand nicht darin. Danach nahm sie sich die dunkelblaue Handtasche ihrer Mutter vor und kramte in dem Durcheinander aus Taschentüchern, Tablettenfläschchen, Schminksachen und Kamm nach ihrem Adressbuch.
    Als sie es dort nicht fand, ging sie nach oben. Im Schlafzimmer ihrer Mutter war es heiß und muffig. Sie zog die Vorhänge auf und öffnete ein Fenster. Ohne einen Blick auf das Bett zu werfen, rannte sie aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, sobald sie das Adressbuch im Toilettentisch gefunden hatte. Unten blätterte sie es durch. Sie fand niemanden mit einem Dr. vor dem Namen, aber sie entdeckte Neils Telefonnummer. Sie stellte sich vor, wie Neil in seiner Marineuniform mit großen Schritten ins Haus treten und sagen würde: »Du musst an die Kinder denken, Lucinda.« Bestimmt würde er alles wieder in Ordnung bringen.
    Zum Mittagessen legte sie alles, was sie an Essbarem aufstöbern konnte, auf ein Tablett und trug es in den Garten. Sebastian bastelte sich aus uralten Cocktailkirschen und Crackern kleine Kuchen. Er weinte jetzt nicht mehr so viel und hatte aufgehört, nach seiner Mama zu fragen. Wenn er nicht aß, lutschte er am Daumen. Nach dem Essen nahm India ihn mit hinein und wusch ihm das Gesicht. Da sie seine Haarbürste nicht finden konnte, kämmte sie ihm die Haare mit dem Kamm aus der Handtasche ihrer Mutter. Danach sah er etwas ordentlicher aus, aber irgendwie wirkte er immer noch verwahrlost. Und sie selbst auch, wie sie feststellte, als sie in den Spiegel schaute.
    In der Geldbörse ihrer Mutter waren noch ein paar kleine Münzen, und als India im Haus suchte, entdeckte sie in der Sofaritze ein paar Pennies. Sie hatte mit dem Fahrrad zum Einkaufen fahren wollen, aber Sebastian weigerte sich, sein Dreirad zu nehmen. Er schüttelte nur stumm den Kopf und sagte keinen Ton, als sie ihn fragte, warum nicht. Beinahe hätte sie ihn wieder angeschrien. Am Ende hob sie ihn auf den Sattel ihres Fahrrads und befahl ihm, sich gut an ihr festzuhalten, während sie es den Berg hinaufschob. Es war sehr anstrengend, ihn den ganzen Weg zu schieben, und sie musste sich zusammennehmen, um nicht zu weinen.
    Auf der Höhe lehnte sie das Rad an eine Hecke und zog die schwere Tür der Telefonzelle auf. Sebastian hockte sich auf den Boden und

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