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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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wiederholte Mrs. Day, und India nickte. Die Ladenbesitzerin machte ein erschrockenes Gesicht. »Das habe ich nicht gewusst. Ihr armen kleinen Mäuse. Wann ist sie denn gestorben, Kind?«
    Â»Gestern, glaube ich.«
    Â»Gestern?«
    Â»Sie wird nicht wach, wenn ich versuche, sie zu wecken.« India sprach leise, damit Sebastian nichts mitbekam. »Sie liegt im Bett, und ich hab ihr Tee gebracht und alles, aber sie wacht nicht auf. Und sie ist ganz kalt.«
    Unter Mühen bückte sich Mrs. Day, bis sie mit India auf Augenhöhe war. »Tot?«, flüsterte sie. »Das kann nicht sein, Kind.«
    Â»Doch, ich glaub schon.«
    Â»Vermutlich geht es ihr nur schlecht. Reg kann mit euch gehen und sehen, ob er was für sie tun kann.«
    Â»Sie redet nicht«, sagte India. »Sie hat seit vorgestern nichts mehr gesagt. Und zu essen ist auch nichts da.« Da sie wusste, dass Mrs. Day an Sebastian einen Narren gefressen hatte, fügte sie noch hinzu: »Er weint, weil er solchen Hunger hat.«
    Â»Du schwindelst mich doch nicht an?« Mrs. Day sah India streng an.
    India presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
    Sie und Sebastian wurden ins Hinterzimmer geführt, Mr. Days Reich, und durften sich zwischen Kartons und Milchträgern niedersetzen. Im Radio lief das beliebte Programm Music While You Work . Mrs. Day gab ihnen Milch und Butterbrote, während sich Mr. Day ein Hemd überzog und nach draußen ging. Sebastian schlürfte seine Milch, aber India konnte nichts trinken, so übel war ihr. Als Mr. Day in Begleitung des Constable zurückkam, schaute India Mrs. Day voller Angst an, aber Mrs. Day zauste ihr das Haar und murmelte: »Wir reden nicht mehr drüber. Du brauchst keine Angst zu haben, Kind.«
    Die drei Erwachsenen sprachen eine Weile miteinander. India versuchte zu lauschen, aber sie verstand nichts. Sebastian kletterte auf ihren Schoß. Sie merkte, dass er einschlief, er wurde immer schwerer, wie früher, als er noch ein Baby gewesen war und jeden Tag seinen Mittagsschlaf gebraucht hatte.
    Durch die Seitentür konnte India in einen Garten hinaussehen. Hohe Malven mit großen rosaroten Blüten standen in der Sonne. Ein Huhn pickte im Staub. India stellte sich vor, sie und Sebastian würden bei Mrs. Day wohnen. Sebastian könnte im Garten spielen, und sie würde im Laden helfen. Sie könnte den Käse mit dem Draht durchschneiden und mit der Schippe das Mehl aus dem Sack abmessen, und sie könnte die kleinen Messinggewichte auf die Waage stellen, das hatte sie immer schon mal tun wollen.
    Mr. Day und der Polizist gingen wieder. Viel später, nachdem die Männer zurückgekommen waren, zog Mrs. Day India an sich und sagte ihr, dass ihre Mutter wirklich tot war. Da weinte sie endlich, obwohl sie es längst gewusst hatte.
    Sie wusste nicht, wie sie es Sebastian sagen sollte. Er verstand es nicht und fragte immer wieder nach seiner Mama. India erklärte ihm, ihre Mama sei jetzt im Himmel und gehe auf Wiesen voller Blumen an einem silbernen Fluss spazieren. Er hörte trotzdem nicht auf zu weinen.
    Als draußen die Vögel ihren Morgenchor anstimmten, schlief India endlich ein, verschlief das Läuten des Weckers und ließ sich auch nicht von Sebastian wecken, der ihr eine Tasse Tee brachte. Als sie schließlich wach wurde, schaute sie auf ihre Uhr. Halb elf. Sie schimpfte laut.
    Garrett drehte sich halb um und nuschelte: »Was iss’n los?«
    Â»Ich hab verschlafen«, brüllte sie ihn an. »Ich komme zu spät zur Arbeit, und daran bist nur du schuld.«
    Sie zog sich in Windeseile an, machte Katzenwäsche, fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare und rannte zur U-Bahn. Vor dem Laden setzte sie eine Sonnenbrille auf und erklärte Mrs. Maloney, sie hätte eine Migräne. Aber Mrs. Maloney lachte nur ungläubig und warf sie trotzdem hinaus.
    Als sie wieder zu Hause ankam, war Garrett gegangen. Sie nahm ein Bad, wusch sich die Haare und legte sich mit einer Zeitschrift aufs Sofa. Wieder überfiel sie die Erinnerung. Sie kuschelte sich tief ins Sofa und versuchte, nicht an das Vergangene zu denken, aber es war da, ein Splitter aus Eis, der sich nicht entfernen ließ.
    Damals, im Sommer 1942, hatte India geglaubt, sie und Sebastian würden in Zukunft bei der Lebensmittelhändlerin leben. Eines Morgens jedoch war Mrs. Day hereingekommen, um ihnen mitzuteilen, dass sie Besuch hätten.

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