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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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noch. Der Tee stand kalt und unberührt auf dem Nachttisch. Sie überlegte, ob sie ihre Mutter wecken sollte, aber sie erinnerte sich, dass sie gesagt hatte, sie fühle sich gleich so viel besser, wenn sie richtig ausgeschlafen habe. Also ließ India den Teller mit dem Brot oben stehen und nahm Tasse und Untertasse mit hinunter.
    Am Nachmittag zogen sie und Sebastian zu der Höhle, die sie sich im Wald gebaut hatten. Die Höhle lag versteckt unter einem Buchsbaum. Sein Laub bildete ein schützendes dunkelgrünes Dach, und die gebogenen gelben Äste dienten ihnen als Sitze. Sebastian spielt mit Indias altem Puppengeschirr. Es schien ihn nicht zu stören, dass nur noch vier Untertassen und eine angeschlagene Tasse übrig waren. India atmete den warmen, würzigen Geruch des Buchsbaums ein und beobachtete das Blitzen der Lichtstrahlen, die durch das grüne Dach ihrer Höhle fielen. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter je zuvor so lange geschlafen hatte. Vielleicht, dachte sie, sollte sie nach Hause gehen und sie doch wecken.
    Sebastian füllte Erde in die Tasse und hielt sie seiner Spielzeuggiraffe an die Schnauze. Als India sagte, sie gehe nur schnell auf einen Sprung zur Mutter, jammerte er. Sie befahl ihm, in der Höhle zu bleiben und auf sie zu warten. »Ich bin im Nu wieder da«, versprach sie. Neil hatte das immer gesagt, wenn er ins Pub gegangen war, um Bier zu holen, aber er war nie im Nu wieder da gewesen. Sebastian fing an zu weinen. Ungeduldig rief India: »Ich bring dir auch was Schönes mit«, und rannte los.
    Im Haus war es sehr still. Sie hatte gehofft, die Schritte ihrer Mutter zu hören oder das Summen des Kessels oder »My Funny Valentine«, sobald sie die Tür öffnete. Als sie nach oben rannte, merkte sie, dass sie Angst hatte, aber sie kehrte nicht um.
    Ihre Mutter schlief immer noch. Sie lag genauso da wie am Morgen, die Decke über dem Kopf, nur ein Büschel Haare sichtbar. Das Marmeladenbrot hatte sie nicht angerührt.
    Â»Mama?«, sagte India. Dann, lauter: »Soll ich dir noch eine Tasse Tee machen?«
    Ihre Mutter regte sich nicht. India wurde plötzlich wütend. Es war nicht fair, dass sie alles allein machen musste, sich dauernd um Sebastian kümmern und etwas zu essen herbeizaubern sollte, wo doch fast nichts mehr da war. Sie packte ihre Mutter bei der Schulter und schüttelte sie.
    Die Decke rutschte abwärts. Das helle Haar fiel ihrer Mutter über das Gesicht. Sachte strich India es zurück. Die Haut darunter war kalt, viel kälter als im Winter, wenn sie ihrer Mutter die Füße warm gerieben hatte. »Mama?«, flüsterte sie.
    Sie nahm das Marmeladenbrot für Sebastian mit und rannte in den Wald zurück. Sebastian war nicht in der Höhle, und sie bekam Angst. Vielleicht hatte er sich im Wald verlaufen wie Hänsel und Gretel . Planlos lief sie umher und rief immer wieder seinen Namen, bis sie schließlich hinter einer Birke sein blaues Hemd leuchten sah. Er weinte, als sie ihn ausschimpfte, aber als sie ihm das Brot gab, beruhigte er sich gleich wieder.
    Den Rest des Tages blieben sie im Garten. Das Haus war India jetzt unheimlich. Sebastian wollte seiner Mutter noch einen Gutenachtkuss geben, bevor India ihn zu Bett brachte, aber das erlaubte sie ihm nicht; sie hatte, als sie hineingegangen waren, noch einmal ins Schlafzimmer geschaut und gesehen, dass ihre Mutter immer noch so dalag wie am Morgen. Sebastian fing wieder an zu weinen und hörte erst auf, als India ihm eine Geschichte erzählte. Sie fragte sich, ob er so viel weinte, weil er Hunger hatte. Sie hatte auch Hunger; nachdem Sebastian eingeschlafen war, durchsuchte sie die Speisekammer. Es war kein Brot mehr da, keine Butter, keine Marmelade. Nur ein paar Salzkekse fand sie noch und aß ein halbes Dutzend, obwohl sie es ekelhaft fand, wie sie ihr auf der Zunge und am Gaumen kleben blieben. Aus lauter Gier nach etwas Süßem versuchte sie einen Löffel Kakaopulver, aber es war bitter und staubig. Als es dunkel wurde, kroch sie zu Sebastian ins Bett. Sie wusste, dass sie noch einmal nach ihrer Mutter hätte sehen sollen, aber die Dunkelheit machte ihr Angst. Sie kuschelte sich an Sebastians kleinen warmen Körper und horchte in die Stille. Es gab Geister im Haus, sie und Sebastian hatten sie selbst gehört. Ein leises Klopfen an einem Fenster, Schritte auf der Treppe, wenn alles schlief. Sie glaubte, ihre

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