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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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beizusteuern hatte und sich alle unter Sitzgeklapper und Füßescharren erhoben, blickte Ellen zur vorderen Reihe. Alec nahm seine Aktentasche und sein Jackett und drehte sich nach ihr um, doch im selben Augenblick klopfte ihm jemand auf die Schulter und zog ihn in ein Gespräch.
    Zusammen mit Professor Malik ging sie hinaus. In einem Gesellschaftsraum wurde Sherry serviert. Warm und viel zu süß rann er ihre Kehle hinunter und löste ein wenig die Spannung dieses Tages, der unangenehm schwierig geworden war. Malik vertiefte sich in eine Fachsimpelei mit einem Kollegen vom University College, und sie stand plötzlich allein da. Sie wusste von den vielfältigen Vernetzungen in dieser Gruppe, wusste, dass sie am Rand stand. Sie war nicht mehr auf dem Laufenden, nicht mehr im Zentrum der Entwicklung. Schlimmer noch, an diesem Abend hatte sie Mühe, sich zu konzentrieren. Sie hörte die Worte – langkettige Moleküle … Bragg-Beugung … Kohlenhydratpolymere …  –, aber sie flogen an ihr vorbei. Es kribbelte sie im Nacken, beinahe als könnte sie seinen Blick spüren. Würde er sich ihr nähern? Würde er sie ansprechen? Vielleicht nicht. Was war sie schon für ihn? Eine ehemalige Arbeitskollegin.
    Â»Ellen«, sagte er, und sie drehte sich um.
    Â»Hallo, Alec. Wie geht es Ihnen?«
    Â»Gut, danke. Und Ihnen?«
    Â»Ganz wunderbar. Wie fanden Sie das Seminar?«
    Â»Nicht besonders. Und Sie?«
    Â»Gut, sehr gut. Wie ist es am King’s?«
    Â»Ich fühle mich sehr wohl dort. Ich wusste gar nicht, dass Sie in London sind.«
    Waren das ein paar weiße Haare an seinen Schläfen? Hatte er vielleicht ein wenig Gewicht zugelegt in den letzten Jahren? Sie erzählte ihm vom Krankenhaus und wartete auf eine gönnerhafte Bemerkung.
    Aber er sagte nur: »Das klingt interessant. Es ist sicher ein gutes Gefühl, etwas zu tun, was den Leuten ganz direkt zugutekommt.«
    Hatte das herablassend geklungen? Nein, das konnte man wirklich nicht behaupten. »Wie geht es Andrée?«, fragte sie.
    Â»Gut, nehme ich an.«
    Â»Sie konnte wohl heute Abend nicht kommen?«
    Â»Nein. Sie ist in Paris.«
    Â»Oh. Zu Besuch?«
    Â»Sie arbeitet dort.«
    Â»Das muss schwierig sein.«
    Â»Schwierig?«, fragte er leicht erstaunt. »Das glaube ich nicht. Es war das Gescheiteste, was sie tun konnte. Sie brauchte einen Neuanfang, und sie war nie besonders gern in England.«
    Ellen war verwirrt. »Wollen Sie sagen, dass Andrée in Paris lebt ?«
    Â»Aber ja. Seit zwei Jahren schon.«
    Andrée Fournier war also vor zwei Jahren nach Frankreich zurückgekehrt. Alec hatte mit keinem Wort angedeutet, dass er und Andrée sich an den Wochenenden sahen oder miteinander korrespondierten oder Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmiedeten. Hieß das, dass die Beziehung wieder zerbrochen war – dass er Andrée ein zweites Mal den Laufpass gegeben hatte? Sein ziemlich desinteressiertes »Gut, nehme ich an« deutete darauf hin, und ihr Zorn auf ihn kehrte wieder.
    Â»Die arme Andrée«, sagte sie. »Wir haben uns nie sehr nahegestanden, aber sie tut mir leid.«
    Er schien etwas erwidern zu wollen, doch der Mann, der während des Seminars neben ihm gesessen hatte, schob sich unter asthmatischem Keuchen an ihn heran. »Was ich Ihnen noch sagen wollte, Hunter.« Pfeifende Atemgeräusche. »Ich habe mich neulich mit Bernal unterhalten …«
    Ellen nutzte die Gelegenheit, um sich zu davonzustehlen. Professor Malik konnte sie nirgends entdecken, und die anderen Seminarteilnehmer hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammengefunden, tauschten den neuesten Klatsch aus oder erörterten irgendwelche fachlichen Fragen. Sie stellte sich an ein Fenster und blickte in einen asphaltierten Hof hinaus. Der Regen war stärker geworden, in den Pfützen wirbelten kreiselnde Muster.
    Eine Bekannte vom Birkbeck College trat zu ihr, und sie unterhielten sich eine Zeit lang. Ein schneller Blick durch den Raum zeigte Ellen, dass der korpulente Asthmatiker Alec festgenagelt hatte und Professor Malik gegangen war. Ihre College-Bekannte wollte ebenfalls aufbrechen, daher öffneten sie beide, in ein Gespräch über Kirstallografie vertieft, ihre Regenschirme und traten aus dem Gebäude hinaus auf die Straße.
    Der Regen bildete eine Geräuschmauer, die den Verkehrslärm dämpfte. Als sie

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