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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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im Publikum um und hielt inne, als ihr Blick auf einen Mann fiel, der einige Reihen vor ihr saß.
    Seine Haltung und das dunkle, lockige Haar kamen ihr bekannt vor, erinnerten sie schmerzhaft an ihre Zeit in Gildersleve. Sie konnte ihn nicht genau erkennen, da sein Nachbar, ein korpulenter Mann, der sich wiederholt die Nase schnäuzte, ihr teilweise den Blick versperrte. Aber sie hatte den Eindruck – sicher konnte sie nicht sein –, dass dort Alec Hunter saß.
    Und wenn schon. Verwunderlich wäre das nicht, die wissenschaftliche Gemeinde war eine kleine, ausgewählte Gruppe. Sie brauchte nur höflich lächelnd Guten Abend zu sagen und weiterzugehen. Dann hätte sie es schon hinter sich, ihre erste Begegnung mit ihm nach Gildersleve. Und trotzdem fühlte sie ihre innere Erregtheit, als sie im Saal nach Andrée Fournier suchte, ohne sie jedoch zu finden.
    Auf den Vortrag folgte die Diskussion, und schnell entspann sich eine Debatte über die Interpretation von Daten, bei der die Leute mit großer Leidenschaft ihre unterschiedlichen Standpunkte vertraten. Alec – wenn es denn Alec war – übte sich in Zurückhaltung, und Ellen musste daran denken, wie er sich bei den Seminaren in Gildersleve stets in Schweigen gehüllt und der Diskussion ihren Lauf gelassen hatte, bevor er eingriff, um den Versammelten mitzuteilen, dass sie mit ihrer Meinung samt und sonders völlig danebenlägen. Sie spürte eine Aufwallung von Zorn, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie wenig er bereit gewesen war zuzuhören, mit welcher Selbstgewissheit er aufgetreten war, dann musste sie beinahe über sich selbst lachen. Sie war ja nicht einmal sicher, ob er es wirklich war. Es konnte gut sein, dass sie einem unschuldigen Fremden bitter unrecht tat.
    In dem Moment wandte er sich dem Mann an seiner Seite zu, und sie konnte sein Profil erkennen: die gerade Nase, das energische Kinn, und dazu die leicht schräg stehenden Augen, deren tiefes Blau sie einst so fasziniert hatte. Alec Hunter schickte sich an, das Argument seines Vorredners mit gnadenloser Effizienz in Grund und Boden zu stampfen. Die Diskussion wurde hitzig, als immer neue Teilnehmer einstiegen, mit lauten Stimmen durcheinanderredeten und sich gegenseitig zu übertönen versuchten. Ellen bemerkte, dass Alec niemals unterbrach, bei aller Leidenschaft, die das Thema vielleicht bei ihm entfachte, stets auch im Ton sachlich blieb. Genau das waren seine Fehler, diese kühle Sachlichkeit, die an Gleichgültigkeit rührte, dieser Hochmut, mit dem er sich von anderen abgrenzte, diese gereizte Ungeduld, wenn andere ihm zu bedächtig erschienen. Er hat manchmal Allüren wie ein Gutsherr, hörte sie Martin Finch wieder sagen, und es fiel ihr nicht schwer, sich Alec vorzustellen, wie er gebieterisch über die Ländereien seiner Väter schritt. Er war ein kalter Fisch und sonst nichts. Andrée konnte einem leidtun, dass sie nach diesem Mann verrückt war.
    Als er sagte: »Sie brauchen sich nur die Befunde anzusehen«, meldete sich Ellen zum ersten Mal zu Wort.
    Â»Die Befunde sind nicht schlüssig. Meiner Ansicht nach irrt sich Dr. Hunter, wenn er die Aussagen für eindeutig hält.«
    Alec drehte sich nach ihr um und runzelte die Stirn.
    Â»Es ist allzu leicht, aus unvollständigen Daten die falschen Schlüsse zu ziehen.« Es fiel ihr schwer, unter dem grimmigen blauen Blick ruhig zu bleiben, sich nicht über die Haare zu streichen oder an ihrem Rock zu zupfen. »Solange man nicht das ganze Bild kennt, kann man sich kein richtiges Urteil bilden.«
    Â»Es geht nicht darum, sich ein Urteil zu bilden. Das hier sind Fakten.«
    Â»Da bin ich anderer Ansicht. Aber vielleicht kommt es auf den Standpunkt an.«
    Â»Keineswegs. Faktum ist Faktum.«
    Â»Aber wir können uns irren, Dr. Hunter. Es kann doch sein, dass wir glauben, den gesamten Sachverhalt zu erkennen, obwohl uns ein Teil davon verschlossen ist. Würden Sie dem nicht zustimmen?«
    Â»Es kann gute Grunde dafür geben, Informationen zurückzuhalten«, erwiderte Alec kurz. »Manchmal hat man keine andere Wahl.«
    Ellen schwieg, die Hände zusammengedrückt, damit sie nicht zitterten. Ihr Herz raste, als hätte sie zu viel Kaffee getrunken, und ihr Kopf begann dumpf zu schmerzen.
    Weder sie noch Alec trugen in der letzten Stunde noch etwas zur Diskussion bei. Als keiner der Teilnehmer mehr etwas

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