An einem Tag im Winter
nicht kommen.«
»Du hättest ja raufkommen können.«
Sie wusste, dass er das nicht gern tat. Nur einmal, als sie sich verspätet hatte, war er in die Wohnung gekommen. Er und Sebastian hatten nichts miteinander anfangen können. Marcus hatte versucht, sich mit ihm zu unterhalten, aber Sebastian hatte ihn nur in wortloser Angst angestarrt.
»Eine Viertelstunde lasse ich mir eingehen«, sagte er. »Das muss man Frauen wohl zugestehen. Aber mehr als eine Stunde ⦠es ist gut möglich, dass wir unseren Tisch im Restaurant nicht mehr bekommen.«
»Das macht nichts, ich habe sowieso keinen Hunger.« India nahm ihre Tasche und stieg aus.
Er war wütend. »Ich hasse â Unhöflichkeit. Rücksichtslosigkeit. Das ist billig.«
Billig. Sie drehte sich sehr langsam um und sah ihn an. »Ich habâs nicht vergessen, und ich hatte auch nichts Besonderes zu tun. Vielleicht hatte ich einfach keine Lust, dich zu sehen, Marcus.«
Er kniff die Augen zusammen. »Das nenne ich einen Sinneswandel. Was ist los? Habe ich nicht genug springen lassen?«
»Auf dein Geld kann ich verzichten.«
»Ach? Warum bist du dann hier?« Er griff in die Tasche, holte eine Handvoll Kleingeld heraus und warf es nach ihr. Münzen rollten über das StraÃenpflaster. Sie sprang zurück. »Na, komm schon, India«, sagte er mit einem spöttischen Lachen. »Hebâs schon auf. Das möchtest du doch.«
»Halt du mich ruhig für billig!«, schrie sie, schon im Weggehen. »Du bist sowieso nur ein eingebildetes Schwein.«
Ein Stück die StraÃe hinauf hielt ein Bus. India rannte und sprang im letzten Moment auf. Der Bus war voll, und sie musste auf der Plattform stehen. Sie trug ein kurzes schwarzes Jäckchen mit Pelzkragen über ihrem blauen Seidenkleid. »Na, wohin sollâs denn gehen, Cinderella?«, fragte der Schaffner.
»Egal«, sagte India. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, wie Marcus Pharoah Gas gab und mit viel zu hoher Geschwindigkeit davonraste.
Einige Haltestellen weiter stieg sie aus und ging den Rest des Wegs bis zu Garretts Wohnung in Victoria zu FuÃ. Bei alten Freunden wusste man, woran man war, dachte sie. Sie kannten einen.
Sie stieg die drei Treppen hinauf und klopfte. »Ich binâs, Garrett«, rief sie.
Garrett machte ihr auf. Hinter ihm sah sie den offenen Rucksack auf dem Bett. Er lieà sie ein, schloss die Tür und schob den Riegel vor.
»Verreist du?«
»Ich gehe für eine Weile nach Hause zurück. Oliver fährt heute Abend rauf nach Norden. Er hat gesagt, er nimmt mich mit.«
»Garrett, tu das nicht. Du weiÃt doch, dass duâs da nicht aushältst.«
»Clive kommt nicht zurück, und ich hab nicht viel Arbeit. AuÃerdem ist mir dieser widerliche Lee nicht geheuer.« Er stopfte ein zerknittertes Hemd in den Rucksack.
»Wolltest du abfahren, ohne mir was zu sagen?«
»Ich dachte, du hättest mich satt.«
»Stimmt.« Mit einer Fingerspitze strich sie über die rote Narbe über seinem Auge. »Du kannst einem wahnsinnig auf die Nerven gehen.«
Er sah sie nachdenklich an. »Du wirst mir fehlen, Indy.«
Sie gab ihm einen Kuss und überlieà ihn seinen Reisevorbereitungen. Starke Leistung, India, dachte sie bei sich, als sie die StraÃe hinunterging. Erst verkrachst du dich mit dem einen, dann verabschiedest du dich von dem anderen, und das alles an einem Abend. Sie wollte sich einreden, es sei doch egal, beide Männer seien auf ihre Art gleich anstrengend, trotzdem fühlte sie sich elend, als sie darüber nachdachte, dass bei ihr diese Geschichten immer alle schiefgingen, als entzöge sich ihr Ablauf völlig ihrer Kontrolle. Plötzlich sehnte sie sich nach der Geborgenheit ihrer Wohnung und nach Sebastian.
Zwei Tage waren seit dem Abend vergangen, an dem Ellen und Alec sich das erste Mal geküsst hatten. Der Winter war zurückgekehrt, Schnee fiel aus dem schweren grauen Himmel. Ein Schneesturm fegte über das ganze Land, StraÃen waren unbefahrbar, Fahrzeuge blieben liegen, Viehherden waren auf den Bergweiden eingeschneit.
Alec rief nicht an. Langsam wurde sie unruhig. Sie lag auf dem Bett in ihrem Zimmer, das Radio aufgedreht, las, schrieb Briefe und wartete auf das Läuten des Telefons, das Klopfen an der Tür. Sie konnte nicht ausgehen, niemanden besuchen, weder India noch Riley, noch
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