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An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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andere Freunde, weil sie Angst hatte, den Anruf zu verpassen. Immer wieder ging sie akribisch den Ablauf jenes Abends durch, in chronologischer Reihenfolge, weil ihr das von Bedeutung zu sein schien. Er hatte sie zuerst berührt – hatte ihr mit einem Finger das Haar aus dem Gesicht gestrichen, sie zitterte selbst jetzt noch vor Glück bei dem Gedanken daran –, aber sie hatte den Kuss herausgefordert, sie hatte sich vor ihm auf Zehenspitzen gestellt und seine Lippen mit ihren gestreift.
    Immer wieder von vorn ließ sie die Geschehnisse vor sich ablaufen, langsam wie in einem Traum. Vielleicht hatte er sie gar nicht küssen wollen. Vielleicht war es nichts als eine freundschaftliche Geste gewesen, als er ihr das Haar zurückgestrichen hatte. Vielleicht hatte sie ihn mit ihrer Direktheit überrumpelt, und er hatte ganz automatisch reagiert, wie eben ein Mann reagierte, wenn eine Frau sich ihm an den Hals warf.
    Sie rief im King’s an und hinterließ eine Nachricht. Im Krankenhaus zentrifugierte sie Blutproben, um Serum zu erzeugen, und wartete. Als sie sich in der Mittagspause in der Toilette die Hände wusch und die Haare kämmte, musterte sie sich im Spiegel und sah die Röte in ihrem Gesicht, den feinen Schweißfilm auf ihrer Stirn. War sie unvorsichtig gewesen – hatte sie vergessen, Handschuhe überzuziehen, mit einem Finger den Inhalt eines Reagenzglases berührt und sich ein Fieber geholt? Nein, das war es nicht, sie wusste es genau. Es war die Scham über das, was geschehen war, die ihr die Röte ins Gesicht trieb. Sie hatte ihn nicht nur geküsst, sie hatte sich an ihn geklammert. Sie hatte ihre Finger in seine Haare gegraben, sie hatte ihren Körper an seinen gedrückt. Weiß der Himmel, was geschehen wäre, wenn sie nicht jemanden hätte kommen hören. Vielleicht hätte sie ihnen beiden die Kleider vom Leib gerissen, außer Rand und Band wie die Begleiter des Bacchus auf dem Gemälde, das Daniel in der National Gallery so bewundert hatte. Vielleicht hätte sie sich von ihm gleich dort nehmen lassen, stehend an die Wand gelehnt, wie ein Straßenmädchen. Sie hatte ihn angewidert. Kein Wunder, dass er sich nicht meldete.
    Vielleicht hatte Alec eine Freundin, überlegte sie. Vielleicht hatte er ihr das gerade sagen wollen, als sie sich auf ihn stürzte. Wie würde sie ihm je wieder gegenübertreten können? Sie würde ihre Stellung im Krankenhaus aufgeben müssen. Sie würde London verlassen müssen, gerade jetzt, da sie angefangen hatte, sich hier wirklich zu Hause zu fühlen.
    Schneeverwehungen hielten Reisende in stehen gebliebenen Zügen gefangen, die Königliche Luftwaffe hatte ihre Suche nach russischen Unterseebooten eingestellt und warf stattdessen Futter für eingeschneite Schafe ab. Professor Malik machte sie auf eine offene Stelle am University College aufmerksam; lustlos schrieb sie einen Bewerbungsbrief. Sie besuchte India, aber India war in einer seltsamen Stimmung, plapperte und rauchte ohne Unterlass, ihre Gesellschaft tat Ellen nicht gut. Bei Riley fühlte sie sich wohler; er machte Kaffee, legte eine Platte auf, und sie redeten nicht viel, während die Töne des Klaviers in die Stille tropften wie die Regentropfen auf den Asphalt an dem Abend, an dem sie mit Alec den Strand hinuntergegangen war. Riley hatte einmal gesagt, Männer hielten sie für unerreichbar. Er hatte sich geirrt. Sie war nicht unerreichbar, ganz und gar nicht, nur verzweifelt, und als die Musik verklungen war, eilte sie nach Islington zurück, um zu sehen, ob jemand eine Nachricht hinterlassen hatte.
    Eines Abends schluckte einer ihrer Mitbewohner eine Überdosis Schlaftabletten und musste mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht werden. Ellen und Joe saßen im Wartezimmer, während Daves Eltern sich durch das überschwemmte East Anglia zu ihrem Sohn durchkämpften. Sie redeten mit gedämpften Stimmen und schauten jedes Mal auf, wenn sie das Klappern von Absätzen auf dem blank polierten Linoleum hörten. Eine Frauengeschichte, meinte Ellen. Joe schüttelte den Kopf. Das glaubte er nicht. Er hatte immer den Verdacht gehabt, dass Dave von der anderen Fakultät war. Er zuckte mit den Schultern. Mit Sicherheit wusste er es nicht, sie hatten nie darüber gesprochen. Vielleicht hatte Dave gedacht, er würde schockiert sein, ihn an die Luft setzen, die Polizei holen. Er hatte einen

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