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An einem Tag wie diesem

An einem Tag wie diesem

Titel: An einem Tag wie diesem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Stamm
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war vor zehn Jahren. Ich bin ausgezogen und zu meinen Eltern nach Frankreich gefahren. Manuel war sehr lieb zu mir. Er hat jeden Tag angerufen und gefragt, wie es mir gehe, und gesagt, Dominik vermisse mich. Ich habe sie ja auch vermisst. Nach zehn Tagen bin ich zurückgefahren.«
    »Was war der Grund?«
    Fabienne schwieg. Sie schaute Andreas an, als müsse er die Antwort kennen. Sie stand auf und ging wieder in den Garten. Andreas folgte ihr. Der Wind hatte nachgelassen, und Wolken verdeckten die Sonne. Der Lärm des Rasenmähers war verstummt, und es war sehr still. Die wenigen Geräusche, die noch zu hören waren, klangen nah und sehr deutlich wie in einem geschlossenen Raum. Fabienne war aus ihren Hausschuhen geschlüpft und ging barfuß über die Wiese. Andreas fiel auf, dass sie ein Fußkettchen trug, was nicht zu ihr passte. Sie stellte den Rasensprenger ab und las ein paar Gartenwerkzeuge auf, die bei den Blumenbeeten lagen. Dann schaute sie zum Waldrand hinüber, als suche sie etwas.
    »Hast du die Fotos gesehen bei uns im Haus?«
    Andreas sagte, es sei ihm aufgefallen, dass sie keine Bilder aufgehängt hätten, nur diese Familienfotos.
    »Manuel ist Hobbyfotograf«, sagte Fabienne. »Er muss Tausende von Bildern haben. Dauernd fotografiert er uns. Dominik. Wenn er krank ist. Sogar wenn er schläft.«
    Er habe eine Videokamera, sagte sie. Er filme bei jeder Gelegenheit. Kürzlich habe er angefangen, alle Videobänder auf DVD zu überspielen. Bänder, die sie sich noch nie angeschaut hätten. Sie lächelte unsicher. Sie sagte, manchmal sei Manuel ihr sehr fremd, obwohl sie ihn schon so lange kenne. Er werde ihr eigentlich immer fremder, je länger sie ihn kenne. Sie lachte unsicher.
    »Ich habe nie mit einer Frau zusammengelebt«, sagte Andreas. »Ich weiß nicht, wie das ist.«
    Sie gingen zurück zum Haus. Fabienne verstaute das Gartenwerkzeug und fragte, ob Andreas nicht doch ein Stück Kuchen wolle. Er schüttelte den Kopf, und sie schien erleichtert zu sein. Sie trug die schmutzigen Gläser in die Küche und wusch sie unter fließendem Wasser ab. Andreas musste an Krimis denken, in denen die Täter alle Spuren verwischten und dann doch irgendetwas vergaßen, einen Zigarettenstummel oder ein Taschentuch.
    Das Licht im Treppenhaus war schummrig, und die Luft war so dicht, dass es Andreas vorkam, als bewegten sie sich unter Wasser. Von draußen war Donner zu hören, ein langes Grollen, das wieder erstarb. Fabienne setzte sich auf die Treppe. Sie sah plötzlich sehr müde aus. Andreas blieb vor ihr stehen und schaute auf sie hinunter. Sie fragte, wie spät es sei.
    »Halb fünf.«
    »Manuel wird bestimmt bald zu Hause sein.«
    Andreas setzte sich neben sie. Einen Moment lang saßen sie schweigend da, dann fing Fabienne leise an zu reden. Es war, als spreche sie zu sich. Ihre Stimme klang
leicht belustigt, als nehme sie selbst nicht ernst, was sie sagte, oder als spreche sie von jemand anderem. Manchmal habe sie Angst, sagte sie, sie wisse selbst nicht, wovor.
    »Es hat angefangen, als Dominik zur Welt kam. Dabei ging alles gut. Auch später. Er war ein einfaches Kind und nur selten krank. Vielleicht hätte ich weniger Angst, wenn ich einen Grund hätte.«
    Als Dominik von einer Wespe in die Mundhöhle gestochen worden, als Manuel die Kellertreppe hinuntergefallen sei und sich zwei Bänder gerissen habe, da habe sie auch Angst gehabt. Aber sie habe gewusst, was zu machen sei, habe Erste Hilfe geleistet, sei mit Manuel zum Arzt gefahren. Die Angst, von der sie rede, sei viel allgemeiner, ein Gefühl der Fremdheit. Manuel und Dominik seien ihr manchmal richtiggehend unheimlich. Wenn sie unten im Keller seien und irgendetwas bastelten oder wenn sie zusammen zum Fischen führen, mache sie sich die seltsamsten Vorstellungen. Dieses Leben, das sie alle führten, dieses Haus, das sie sich gebaut hätten, die Fotos an den Wänden. Manchmal stelle sie sich vor, das Haus brenne ab oder es geschehe sonst ein Unglück, eine Katastrophe, und diese Vorstellungen hätten etwas Befreiendes. Andreas fragte, ob sie mit Manuel darüber rede. Sie schüttelte den Kopf und stand auf. »Was soll ich ihm denn sagen?«
    Andreas sagte, er habe ihr etwas mitgebracht. Er zog das Buch aus der Tasche und reichte es ihr.
    »Was ist das?«
    »Eine kleine Geschichte. Kennst du den Autor?«
    »Noch nie gehört.«
    »Lies es«, sagte Andreas. »Es könnte dich an etwas erinnern.«
    »Wie lange bleibst du im Dorf?«
    »Ich werde noch eine Weile

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