Ana Veloso
sich zu ihrer Siesta zurückgezogen, und León schien es mal wieder
eilig gehabt zu haben, das Haus zu verlassen. Vitória nahm ein schnelles Bad,
zog sich ein leichtes Hauskleid an und ging ins Esszimmer, um bei einer Tasse
Kaffee in Ruhe über das nachdenken zu können, was sie heute erfahren hatte.
Doch sie hatte sich noch nicht gesetzt, als León hereinkam, mit einer Zeitung
unter dem Arm, die er anscheinend gerade von draußen besorgt hatte.
»Geh mir aus den Augen, du Mörder.«
Er warf die Zeitung auf den Tisch und näherte
sich Vitória mit einem drohenden Blick.
»Kann das sein? Bist du von allen guten Geistern
verlassen?! Was soll das?«
»Als ob du das nicht wüsstest.«
León griff fest nach ihrem Oberarm. »Nein, sag
es mir.«
»Lass mich gefälligst los.«
»Erst wenn du mir sagst, was ich deiner Meinung
nach verbrochen habe.«
»Du hast Pedro auf dem Gewissen. Wenn du ihm
nicht erzählt hättest, dass ich ihn heimlich unterstütze, wäre er jetzt noch am
Leben.«
»Ich denke, er hatte einen Unfall.«
»Ja, einen, den du verursacht hast und der Joana
eine hübsche Summe aus der Lebensversicherung beschert.«
»Du glaubst, er hat sich umgebracht?«
»León, warum hörst du mir nie richtig zu? Nein,
ich glaube nicht, dass er sich umgebracht hat. Ich glaube, dass du ihn
umgebracht hast.«
»Indem ich unwissentlich ein > Geheimnis < verraten habe, das keines war und von dem ich annahm, er kenne es? Ich bitte
dich, Vita. Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Es ist aber mein Ernst.«
»Du glaubst also, dass deine heimliche Unterstützung
ihn getötet hat, ja? Wenn dem so sein sollte, bist ja wohl eher du an seinem
Tod schuld.«
Vitória befreite sich mit einem Ruck aus seiner
Umklammerung. »Da du mich jetzt schon des Mordes an meinem eigenen Bruder
beschuldigst, verstehe ich nicht, warum du so lange zögerst, die Scheidungspapiere
zu unterschreiben. Sie liegen seit Wochen auf deinem Sekretär.«
León nahm seine Zeitung. »Die Angelegenheit war
mir nicht wichtig genug.« Dann verließ er den Raum.
Vitória schäumte vor Wut. Nicht wichtig genug!
Dieser Lügner, dieser Feigling! Damit hatte er den Vogel abgeschossen! Diese
kleine gemeine Bemerkung verletzte sie tiefer, als er es wahrscheinlich
beabsichtigt hatte. Vitória stand nicht mehr der Sinn nach Kaffee und Kuchen.
Sie konnte dieses Haus keine Sekunde länger ertragen! Sie würde in ein Hotel
gehen oder, noch besser, zu Aaron! Das wäre León sicher auch nicht wichtig
genug, als dass er sie davon abhalten würde. War sie überhaupt jemandem wichtig
genug?
Als ihr Blick auf das Gemälde fiel, begann Vitória
hysterisch zu lachen. Ha, nur sie selber hatte sich wichtig genommen! Wie eitel
sie für den Maler posiert hatte, vor nicht einmal vier Jahren, und wie stolz
sie auf das fertig gestellte Gemälde gewesen war! Himmel, wie hatte sie nur
jemals dieses stümperhafte Gekleckse schön genug finden können, um es im
Esszimmer aufzuhängen, wo es ihr und den Gästen nur den Appetit verdarb?
Außer sich vor Zorn schob Vitória einen Stuhl
vor die Anrichte, die unter dem scheußlichen Gemälde stand. Sie holte aus der
Besteckschublade des Schrankes eine Geflügelschere, kletterte auf die Anrichte
und rammte die Schere in die straff gespannte Leinwand. In rauschhafter
Geschwindigkeit schnitt sie sich durch die Rüschen eines Kleides, das sie nie
besessen hatte, durch die Schärpen und Orden an Leóns Fantasieuniform, durch
ihr Madonnenantlitz und Leóns Heldengesicht. Ihr Arm reichte nur bis zu Leóns
Nasenspitze, und Vitória wippte auf den Zehenspitzen, um noch seine Augen zu
zerschneiden. Die Leinwand hing in Fetzen herab, trockene Ölfarbe bröselte auf
Vitórias Kleid und ihr Haar. Ein spitzer Schrei ließ sie innehalten.
Taís, die mit dem Tablett hereingekommen war,
starrte die Sinhá ungläubig an. Sekunden später kam León hereingestürmt, in der
Annahme, es sei ein Unfall passiert. Sábado hatte sich in eine Ecke des Raums
verzogen, zog den Schwanz ein und winselte. Vitória stand auf der Anrichte.
Ihre Wut war so plötzlich verraucht, wie sie gekommen war. Belustigt sah sie
auf die erschrockenen Gesichter von León und Taís herunter.
»Ich bin nicht dem Wahnsinn anheimgefallen.
Stell den Kaffee auf den Tisch, Taís, und zeige bitte diesem Mann«, damit
deutete sie auf León, »wo sich die Tür befindet. Er scheint mir heute ein
bisschen durcheinander zu sein.« Sie kletterte flink von dem Möbel, ging zu Sábado
und streichelte
Weitere Kostenlose Bücher