Ana Veloso
überkommenen
Traditionen und angestaubten Ansichten gesucht hatte. Oder hatte Pedro damit
nur einen Panzer um seine hoch empfindsame Seele errichtet? War er immer schon
so verletzlich gewesen, und er, León, hatte es nicht früher gesehen? Hatte er
ihm womöglich mit seiner offen gezeigten Verachtung für Pedros kindische Angst
vor einer Erpresserin, die überhaupt nichts in der Hand hatte, das letzte
bisschen Stolz geraubt?
Joana war dankbar für den Regen. Er passte zu
dem Anlass, und er spülte die Tränen von den Gesichtern. Sie selber hatte keine
mehr. Sie hatte tagelang geweint, wahre Sturzfluten von Tränen auf ihrem Kopfkissen
und an Aarons Schulter vergossen, sodass ihre Augen jetzt so trocken waren wie
ihr verdorrtes Herz. Sie allein war schuld an Pedros Tod! Sie hätte nie
zulassen dürfen, dass Vita in ihrer erstickenden Fürsorglichkeit den Bruder
unterstützte, sie hätte sich nie zur Komplizin eines Verrats machen lassen dürfen,
von dem sie wusste, dass Pedro ihn nicht verwinden konnte. Warum war sie nicht
mit ihm fortgezogen aus Rio? Warum hatten sie ihr Glück nicht woanders gesucht,
irgendwo, wo Pedro sich nicht als Sohn eines verarmten Kaffeebarons fühlen
musste, sondern sich eine eigene Identität hätte aufbauen können? Wo er nicht
dem zerstörerischen Einfluss seiner Familie ausgesetzt war, wo er wieder hätte
lachen können. Jetzt war es zu spät. Jetzt gehörte Pedro den Maden und den Würmern,
während sie selber von Selbstvorwürfen zerfressen wurde, was kaum besser war.
Die Welt hatte ihren Zauber verloren, das Leben seinen Glanz. Ohne Pedro war
alles tot, leer, hohl.
Joana hätte noch Stunden im Regen stehen und dem
unsinnigen Geschwätz des Pfarrers lauschen können, der von seiner eigenen
Ansprache ergriffen war, dessen sonore Stimme Joana aber doch angenehm war, sie
in eine Art Trance führte. Doch Aaron, der sie stützte, zuckte plötzlich
zusammen und ließ Joana aus ihrer Versunkenheit hochfahren. Sie sah auf. Vitória
war an den Rand des Grabes getreten. Und obwohl Joana das Interesse für alles
um sich herum verloren hatte, merkte sie, dass die anderen Leute gespannt die
Luft anhielten. Sogar der Pfarrer.
Vitória blieb kurz am Grab stehen, besann sich
dann und drehte sich zu Joana um. Sie nahm ihre Schwägerin am Arm, führte sie
an das Grab, ließ sie zuerst ihre Rose auf den Sarg werfen und tat es ihr
anschließend nach. Dann drehte sie sich um und sagte, nur für den Geistlichen
und die Nächststehenden hörbar: »Sie müssen nicht auch noch uns alle ins Grab
reden. Ihre Vorstellung ist beendet.«
Der Mann bekreuzigte sich, desgleichen Dona
Alma. León war stolz auf Vitória, die es gewagt hatte, das zu tun, woran alle
Anwesenden die ganze Zeit gedacht hatten.
Da der Anfang nun gemacht war, traten auch Dona
Alma und Eduardo an das Grab ihres Sohnes. Dona Alma warf einen Bund
Vergissmeinnicht auf den Sarg, Eduardo seinen geliebten Säbel, den kostbarsten
Gegenstand, der ihm geblieben war und den er nun keinem Sohn mehr vererben
konnte. Mit einem lauten Klirren fiel der Säbel auf die Messingbeschläge des
Sargdeckels.
Im selben Augenblick hörte das Baby auf zu
schreien. Die plötzliche Stille war so unheimlich, dass es auf die Trauernden
wie ein Fingerzeig Gottes wirkte, wie ein Signal, dass es jetzt endgültig hieß,
Abschied zu nehmen.
Nachdem die Angehörigen und Freunde dem Toten
die letzte Ehre erwiesen hatten, durften auch andere an das Grab herantreten. Félix
hatte eigentlich nicht vorgehabt, Erde auf den Sarg zu werfen. Doch ein
Glitzern des Säbels, das er nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, hatte
seine Aufmerksamkeit erregt. Er ging mit dem Baby auf dem Arm nach vorn, bückte
sich, hob einen Klumpen nasser Erde auf und warf ihn mit einem hässlichen
Platsch ins Grab. Er beugte sich ein wenig vor, um den Säbel genauer ansehen zu
können. Ihm stockte der Atem.
João Henrique fand es unmöglich, dass dieser
stumme Sklave das Begräbnis zur Unterhaltung seines schlecht erzogenen Kindes
missbrauchte. Musste er wirklich dem Schreihals noch zeigen, was da so schön
geklirrt hatte? Das war doch kein Jahrmarkt hier! Das heißt – die Darbietung
von Vitória Castro vor ein paar Minuten hatte durchaus einen gewissen
Unterhaltungswert gehabt. Er mochte Pedros Schwester nicht leiden, aber dieser
Auftritt war absolut genial gewesen. Die Frau hatte Mumm, das musste man ihr
lassen. Kurzzeitig war es ihr sogar gelungen, ihn von den Zweifeln abzulenken,
die ihn
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