Ana Veloso
Das Delikatessengeschäft gab es nicht
mehr, in den Räumen hatte sich jetzt ein Herrenschneider eingerichtet, der sich
auf die Bedürfnisse der einfacheren Leute spezialisiert hatte. Die Hutmacherin,
die ihr Atelier in der ersten Etage eines Hauses in der Rua das Rosas gehabt
hatte, war ebenso ausgezogen wie der Juwelier. Das Hotel machte einen
ungepflegten Eindruck, die Fenster waren schmutzig und die runden Markisen darüber
verschossen. Dennoch hatte Vitória Lust, auf einen Kaffee hineinzugehen. Es
schien nach wie vor das erste Haus am Platz zu sein.
Sie waren die einzigen Gäste. Ein Kellner mit
fettigen Haaren bediente sie widerwillig.
»Weißt du noch ...«, setzte Joana an, wurde
jedoch von Vitória am Weiterreden gehindert.
»Bitte. Tu uns beiden den Gefallen und sprich
nicht darüber.« Natürlich wusste sie noch! Wenngleich die meisten Erinnerungen
an ihre Hochzeit stark verblasst waren, wusste Vitória doch noch sehr genau,
wie schrecklich sie sich gefühlt hatte, wie schlecht ihr gewesen war, wie León
sie aus genau diesem Raum herausgetragen und auf die Hochzeitssuite gebracht
hatte. »Lass uns den Kaffee austrinken, uns eine Kutsche suchen und nach
Boavista fahren. Diese Stadt hebt nicht gerade meine Laune.«
Doch die Fahrt durch die verwilderten Felder, über
holprige Wege und morsche Holzbrücken hob ihre Laune noch viel weniger. Der
Felsen, auf dem sie und Rogério sich mit dreizehn Jahren zum ersten Mal geküsst
hatten, unschuldig und doch aufwühlend wie kein anderes Ereignis ihres jungen
Lebens – dieser Felsen also, war er schon immer so klein und unscheinbar
gewesen? Sie hatte ihn viel imposanter im Gedächtnis. Die Ausbuchtung des Paraíba
do Sul, in der sie so gern schwimmen gegangen war – war das Wasser immer schon
so brackig gewesen, hatte auf der Oberfläche auch damals so viel faulendes Laub
gelegen? Der Hügel, von dem Eufrásia und sie sich auf der Seite liegend als
Kinder hatten herunterkullern lassen – war er nicht steiler, höher, gefährlicher
gewesen? Und der Mandelbaum, an dem sie und León sich in dieser verhängnisvollen
Gewitternacht verabredet hatten – wie konnte man nur einen so verkrüppelten,
halb toten Baum als Treffpunkt für ein romantisches Stelldichein wählen? Kein
Wunder, dass ihre Verbindung sich so ungut entwickelt hatte.
Es war erschreckend, wie sich die Wahrnehmung mit
dem Erwachsenwerden veränderte. Wie schade, dass die Merkmale der Landschaft an
Größe verloren, Düfte und Empfindungen an Intensität. Was für ein Jammer, dass
man sich nicht mehr mit derselben Leichtigkeit verlieben konnte wie früher, mit
derselben Inbrunst den Geburtstag herbeisehnen oder sich den sofortigen Tod der
besten Freundin wünschen konnte. Im Vergleich dazu waren heute alle Sinneseindrücke
flach, Gefühle schal, Erlebnisse unbedeutend.
Die Kutsche quälte sich die Anhöhe hinauf,
hinter deren Kuppe man Boavista sehen konnte. »Wer Boavista zuerst sieht, hat
gewonnen« hatte sie früher oft mit Pedro gespielt, und immer hatte sie
gewonnen, weil sie noch vor Erreichen der Kuppe aufgeregt geschrien hatte: »Da
ist es! Da ist es!«
»Da ist es«, sagte jetzt Joana matt.
Vitória hätte heulen können.
Sie rückte die Brille zurecht, kniff die Augen
zusammen, und tatsächlich, da war es! Das rote Dach aus den gerundeten Ziegeln,
die auf den Oberschenkeln von Sklaven geformt worden waren, sah man immer
zuerst. Dann: das Herrenhaus, die senzalas, den Springbrunnen. Oh, das
war herrlich! Aus dieser Entfernung sah Boavista aus wie immer, und obwohl Vitória
ahnte, was auf sie zukam, gab sie sich einen kleinen Moment lang der Illusion
hin, es sei alles beim Alten.
Es war noch schlimmer, als Vitória befürchtet
hatte. An der einst makellos weißen Fassade liefen braun-graue
Regenwasserspuren herab, an den Fenstern und Türen bröckelte der Lack. Der
Springbrunnen war ohne Wasser, dafür mit Moos bewachsen und auf seinem
Mosaikboden mit einer modrigen Blätterschicht belegt. Die Keramikzapfen auf dem
Treppensims hatten Sprünge.
Fünf Leute hatten tagaus, tagein nichts anderes
zu tun, als dieses Anwesen in Schuss zu halten. Was taten sie eigentlich für
ihr Geld? Und vor allem: Was taten sie mit dem Geld, das Vitória für den Erhalt
Boavistas schickte? Es konnte doch nicht so schwer sein, ein paar Eimer Farbe
zu beschaffen und die Fassade zu streichen, oder einen Besen in die Hand zu
nehmen und den Hof zu fegen.
Die Haustür quietschte, als Vitória sie
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