Ana Veloso
ihren eigenen
Gedanken beschäftigt, jede teilnahmslos die Verwüstungen betrachtend, die der »Fortschritt«
mit sich gebracht hatte. Der einzige Unterschied war, dass Vitória die
Landschaft auf sich zurasen sah, während Joana, die mit dem Rücken in
Fahrtrichtung saß, den Eindruck hatte, sie würde vor ihr fliehen. Es spielte
keine Rolle. Die sich ausdehnenden Elendssiedlungen der Schwarzen, die
abgeholzten Wälder, die Steinbrüche, das neue Elektrizitätswerk, die
Konservenfabrik und das Sägewerk, die Müll- und Schrottplätze waren immer hässlich
anzusehen, aus welcher Perspektive man sie auch betrachtete. Als sie die
Umgebung von Rio verließen, wurde es nicht besser. Herrenhäuser mit
eingefallenen Dächern, brachliegende Felder, dürre Kühe und ärmliche Dörfer
brausten an ihnen vorbei, schnell genug, dass man keine noch verheerenderen
Details erkannte. Vitória empfand keine Freude beim Anblick ihrer geliebten
Heimaterde. Der rostrote Lehm erinnerte sie an getrocknetes Blut, das braune
Wasser der Flüsse an Friedhofserde, das Grün der Bäume an Schlangengift – eine
endlose Spur des Verfalls zischte an ihnen vorüber, und in ihrem Nachhall lag
nichts als Hohn.
Nein! Vitória rief sich zur Vernunft. Wollte sie
jetzt auch schon immer und überall das Schlechte sehen? Reichte nicht ein
Selbstmörder in der Familie? Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich vom
Vale do Paraíba Trost zu versprechen. Aber es war kein Grund, den Kopf hängen
zu lassen. Schlimmstenfalls würden sie eben wieder nach Rio zurückfahren.
Vitória kramte in ihrer Reisetasche umständlich
nach den chilenischen Äpfeln, die sie für einen horrenden Preis und in einem
Anfall von Genusssucht für die Reise gekauft hatte. Sie fand endlich einen
Apfel, rieb ihn an ihrem Kleid ab und biss laut krachend in die rote Schale.
Joana bekam davon nichts mit. Sie saß wie versteinert auf dem abgewetzten
Samtpolster, starrte aus dem Fenster und bot in ihrer Witwentracht ein
erbarmungswürdiges Bild.
Joana trug ein schwarzes, hochgeschlossenes
Wollkleid und einen kleinen Hut, an dem vorn ein schwarzer Schleier mit Tupfen
befestigt war, der beinahe ihr ganzes Gesicht verdeckte. Vitória hatte nur
einen kurzen Schleier an ihrem Haarknoten festgesteckt – die Welt sah schon düster
genug aus, ohne dass sie durch dunklen Tüll blickte. Auch sie trug ein
schwarzes Kleid, hatte sich jedoch ein blaues Tuch um die Schultern gelegt.
Immer wenn der Zug durch dunkle Waldabschnitte fuhr, sah Vitória sich
verstohlen in der Fensterscheibe an, und jedes Mal erwischte sie sich bei dem
Gedanken, dass diese Kombination, Schwarz-Blau, ihr gar nicht so schlecht
stand. Sie ließ sie älter aussehen als ihre vierundzwanzig Jahre, aber auch
seriöser, reifer, ernsthafter. Als der Zug jetzt einen kleinen Tunnel
passierte, wendete Vitória ihren Blick schnell von ihrem Spiegelbild ab.
Himmel, hatte sie keine anderen Sorgen! Ihr Bruder war vor kurzem gestorben,
ihr Mann ließ sie im Stich, ihre Eltern flohen vor ihr – und sie bewunderte
sich selbstverliebt im Fenster. Für wen wollte sie überhaupt noch schön sein? Für
Joana? Ha! Neben ihrer Schwägerin, die das personifizierte Elend war, sah sie
ohnehin aus wie eine Göttin. Joana hatte innerhalb kürzester Zeit so viel
Gewicht verloren, dass ihre Hände, die jetzt zusammengefaltet auf ihrem Schoß
lagen, knochig und pergamenten aussahen und ihr Dekolletee flach geworden war.
Warum weigerte sie sich auch, ein Korsett zu tragen und ihre Brust damit ein
wenig anzuheben? Es machte die Dinge nicht besser, wenn man sich gehen ließ.
Das genauere Studium von Joanas Gesicht blieb Vitória dank des Schleiers davor
zum Glück erspart. Die riesigen Augen in den dunklen Höhlen wirkten auf sie
immer wie eine einzige Anklage.
Da niemand sie am Bahnhof erwartete und da Vitória
nach der langen Zugfahrt keine Lust hatte, sich direkt im Anschluss wieder
durchrütteln zu lassen, schlug sie einen kleinen Spaziergang durch Vassouras
vor. Joana war einverstanden. Dem Burschen, der im selben Zug in der dritten
Klasse mit ihnen angereist war, schärfte Vitória ein, gut auf ihre Koffer,
Kisten und Taschen aufzupassen und sich nicht vom Fleck zu rühren, bis sie von
ihrem Gang zurückkämen.
Träge schlenderten Joana und Vitória durch die
Straßen, die sie so gut kannten. Vassouras war bunt und laut wie immer. Erst
auf den zweiten Blick bemerkte man, wie auch hier der Untergang der
Kaffeebarone seine Spuren hinterlassen hatte.
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