Ana Veloso
teuren
Kleider leisten können.«
»Ich bezweifle, dass es die Kleiderordnung ist,
die die Armen davon abhält, ins Theater zu gehen«, sagte Vitória, während sie
weiter das Opernglas vor ihre Augen hielt und das Publikum studierte. Dann
wurden die Gaslampen heruntergedreht. Im Zuschauerraum wurde es sofort still,
abgesehen von dem einen oder anderen Huster. In dem Augenblick, in dem der
schwere blaue Samtvorhang sich hob, sah Vitória zwei Schatten über den Gang
links vom Parkett huschen. Zu-spät-Gekommene. Sie setzten sich auf die beiden
Plätze am äußersten Rand ihrer Reihe und lösten dabei das ungehaltene »Scht!«
ihrer Sitznachbarn aus.
Das Stück selber enttäuschte Vitória. Sie hatte
Molière gelesen und sich dabei deutlich besser amüsiert als bei dieser Aufführung.
Die Schauspieler wirkten lustlos, und der Hauptdarsteller, der rühmte Orlando
Alencar, ließ den Argan aussehen wie jemanden, der die eingebildete Krankheit
lange hinter sich hat und nun bereits von der Leichenstarre befallen ist. Vitória
war kurz davor, einzuschlafen.
Als endlich der zweite Akt überstanden war und
alle Lampen im Saal wieder hell brannten, brauchte sie ein paar Sekunden, um
sich von ihrer Benommenheit zu befreien. Pedro stellte sich an den Balkon und
winkte jemandem im Parkett zu. Vitória sah schläfrig zu der Person hinunter –
und war mit einem Schlag hellwach. Selbst ohne Brille konnte sie erkennen, dass
es sich um León Castro handelte. Die Frau an seiner Seite, ganz in Schwarz und
der einzige dunkelhäutige Mensch weit und breit, ließ keinen Zweifel daran.
»Vita, die Methoden, mit denen Sie Ihre Sklaven
malträtieren, werden in ihrer Grausamkeit immer subtiler. Herzschlag durch Überraschung
– was für eine perfide Art der Folter.«
Zum Glück hatten weder Dona Alma, die mit Manuel
de Barros schäkerte, noch Pedro, der auf der Suche nach einem Kellner durchs
Foyer irrte, etwas von dieser sonderbaren Begrüßung mitbekommen. Die anderen
jungen Leute, Joana, João Henrique und die Schwarze Witwe, die um sie herum
standen, beobachteten die beiden schweigend – und mit verwirrten Gesichtern.
»Nun, mein lieber León, in diesem Punkt stehen
Sie mir in nichts nach. Herzschlag nach ungebührlicher Begrüßung – was für eine
perfide Art, die Herrschaft zum Teufel zu schicken.«
León lachte. »Sie sind herrlich, Vita. Hatten
Sie darauf gehofft, dass ich, wie wahrscheinlich alle anderen hier anwesenden
Herren, Ihr Aussehen mit läppischen Worten lobe, die Ihrer Schönheit niemals
gerecht werden könnten? Nein, für einen solchen Langweiler haben Sie mich nicht
gehalten, nicht wahr?«
»Nein. Aber auch nicht für so unhöflich, dass
Sie mir nicht einmal Ihre, äh, aparte Begleiterin vorstellen.«
»Dona Cordélia dos Santos – Senhorita Vitória da
Silva.«
Die beiden Frauen nickten einander zu. Vitória
konnte sich nicht dazu überwinden, der Mulattin die Hand zu geben. Dona Cordélia!
Wie anmaßend musste man sein, um sich mit dieser Hautfarbe, und noch dazu als
so junger Mensch, mit Dona ansprechen
zu lassen!
»Verzeihen Sie meine Neugier, Cordélia«, wandte
sich Vitória an sie, »wie kommt es, dass Sie Trauer tragen, aber trotzdem ins
Theater gehen?«
»Wissen Sie, Vitória«, antwortete die Mulattin
und verzichtete nun ihrerseits bewusst auf ein höfliches »Sinhá« oder »Senhorita«
vor Vitórias Namen, »ich betrauere keinen bestimmten Menschen. Ich trage
Schwarz, um dem Schmerz Ausdruck zu verleihen, der meinem Volk, meiner Rasse in
diesem Land zugefügt wurde
und wird.«
Vitória verschluckte sich fast an ihrem
Champagner, den ihr Pedro mittlerweile in die Hand gedrückt und an dem sie
genippt hatte.
»Ach so. Und Ihr Mann leidet allein zu Hause?«
Vitória wusste, dass dieser Punkt an sie ging.
Cordélia hatte keinen Mann, jedenfalls keinen Ehemann, und damit auch nicht das
Recht, sich mit »Dona« ansprechen zu lassen.
»Keineswegs. Mein Mann«, und dabei warf sie León
verliebte Blicke zu, »ist äußerst umtriebig in dem Bestreben, diesen Schmerz
zu lindern.«
Touché. Diese Frau, diese mulata, war
wirklich ein Biest – und offensichtlich schlagfertiger, als Vitória es ihr
zugetraut hätte. Zu allem Überfluss war sie auch schön. Sie war groß und
schlank, hatte eine samtige, hellbraune Haut und ein Gesicht, das, abgesehen
von der Farbe, einer Weißen hätte gehören können. Die Nase war schmal und
gerade, die Lippen eben so schmal, dass sie nicht negroid aussahen, aber
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