Ana Veloso
doch
Vitória hatte nicht die geringste Lust, ihr Zimmer zu verlassen. Es war der
einzige Ort, an dem sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen, sich das
bevorstehende Treffen in den schönsten Farben ausmalen und den letzten Abend
Revue passieren lassen konnte.
Deshalb also die Kaviartoasts, die sie in der
Eile gar nicht mehr hatten genießen können – kurz nachdem der Kellner gekommen
war, hatte der Gong zum dritten Akt geläutet. Deshalb also die vermeintlich
wichtige Begrüßung des Abgeordneten – León hatte nur nach einer Möglichkeit
gesucht, ihr die Hand geben und den Zettel zustecken zu können. Vitória sah auf
einmal Leóns Blicke, jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen in einem ganz
neuen Licht. »Vita, Schatz, bist du ganz sicher, dass du mich nicht zum Jóquei
Clube begleiten willst?« Dona Alma war ins Zimmer gekommen, nachdem sie nur
kurz angeklopft und Vitórias Antwort nicht abgewartet hatte.
Vitória ließ ihre Hand mit dem Zettel schnell
unter die Bettdecke gleiten. Hoffentlich hatte ihre Mutter nichts gesehen.
»Nein, Mãe, so gern ich auch würde, es geht
einfach nicht. Ich habe das Gefühl, dass mir der Schädel platzt. Ich denke, ich
habe gestern Abend ein Glas zu viel getrunken.«
Dona Alma sah Vitória aufmerksam an. Unwohl sah
ihre Tochter nicht aus, ganz im Gegenteil.
Ihre Haut hatte einen rosigen Teint, ihre Augen
sprühten vor Unternehmungslust. Sie leuchteten im hereinfallenden Sonnenlicht
noch blauer als gewöhnlich. Dennoch sagte Dona Alma nichts. Es war ihr selber
nicht ganz unrecht, wenn sie allein mit Senhor Manuel zum Pferderennen ging.
Sie hatten sich viel zu erzählen.
»Also dann, gute Besserung, mein Kind.« Dona
Alma drückte Vitória ein Küsschen auf die Wange und ging.
Morgen, 14 Uhr, vor dem Palacete da Graça.
León hatte Zeitpunkt und Ort des Treffens klug
gewählt, und das trotz des Trubels im Theater und obwohl er nicht viel Zeit zum
Nachdenken gehabt hatte. Noch ein Zug an ihm, der Vitória gefiel: Er war ein
schneller Denker. Um zwei Uhr mittags, das wusste León, hielten die Damen der gehobenen
Gesellschaft ihre Mittagsruhe, sodass Vitória die Möglichkeit haben würde, sich
unbemerkt der Obhut ihrer Mutter zu entziehen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Und der »Palacete da Graça«, das einstige Stadtpalais einer italienischen
Familie, das nun eine Bibliothek beherbergte, lag nur fünf Minuten zu Fuß von
ihrem Haus in der Rua Nova da Bela Vista entfernt, gleich neben dem einstigen
Palast der Marquesa de Santos. Vitória brauchte nur den Wunsch zu äußern, sich
ein wenig Bewegung an der frischen Luft verschaffen zu wollen. Niemand würde
Verdacht schöpfen. Und wenn irgendein Nachbar sie mit León sehen würde, konnte
sie immer noch behaupten, sie habe ihn zufällig vor der Bibliothek getroffen.
Noch vier Stunden! Das war entschieden zu viel
Zeit, um sie nur damit zuzubringen, sich hübsch zu machen. Vitória griff nach
dem Gedichtband, in dem sie erst ein paar Seiten gelesen hatte. Aber die Verse
drangen nicht in ihr Bewusstsein vor, sei es aus Mangel an Konzentration, sei
es aufgrund der schlechten Qualität der Gedichte.
Kein Wunder, dass der Verkäufer den Band aus dem
hintersten Winkel des Ladens hatte hervorkramen müssen. León mochte ein guter
Journalist sein, ein großer Redner und charismatischer Kämpfer für die
Abolition, aber ein Poet war an ihm bestimmt nicht verloren gegangen. Vitória
blätterte lustlos in dem Buch, bis sie schließlich wieder an dem Gedicht hängen
blieb, das ihr schon am Vorabend kalte Schauer über den Rücken gejagt hatte.
Dein Aug' ist mein Himmel,
so blau und so rein.
Gab Spor'n meinem Schimmel,
Dir nahe zu sein.
Trog mich die lichte Farbe,
die mir so viel versprach?
Du lachtest. Ich darbe,
schalt Narr mich hernach.
Ich verlor mein Gesicht:
Ich schenkte dir alles,
Du ließ't mich im Stich.
Mein Weg ist noch weit.
Ich bin nur dein Sklave
und weiß: Es kommt meine Zeit.
Natürlich hatte León dieses Gedicht geschrieben,
lange bevor sie sich überhaupt je begegnet waren. Aber es kam Vitória vor, als
habe er allein sie darin verewigen wollen. Sie liebte es. Vielleicht liebte sie
es sogar deshalb so sehr, weil es so schlecht war. Die Tatsache, dass sich
irgendwo hinter der kühlen Fassade Leóns ein Mann verbarg, der seinen Gefühlen
auf diese Weise Ausdruck verleihen wollte, rührte Vitória. Und dass er als Poet
versagte, wo ihm doch sonst in allem, was er tat, Erfolg vergönnt zu sein
schien,
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