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Analog 04

Analog 04

Titel: Analog 04 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Joachim Alpers , Hans Joachim (Hrsg.) Alpers
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sein wollte. Ein völlig Betrunkener ist bei Callahan eine Seltenheit. Mike Callahan schenkt seine Drinks nicht einfach aus, er serviert sie; wenn man sich in seiner Kneipe vollaufen lassen will, muß man ihn davon überzeugen, daß man das nötig hat, und ihn dazu überreden, die Verantwortung zu übernehmen. In die meisten Bars gehen die Leute, um blind zu werden. Mikes Gäste kommen zu ihm, um besser zu sehen.
    An diesem Abend aber hatte ich ein echtes Bedürfnis danach, meine intellektuellen Fähigkeiten voll und ganz abzutöten, und er erkannte das in dem Augenblick, als ich meinen Fuß über die Schwelle setzte. Ich trug nämlich in meinen Armen die geschändete Leiche von Lady Macbeth. Ihr Kopf baumelte unkontrolliert herab, ihr stolzer Hals war gebrochen, und als sich die Tür von Callahans Kneipe hinter mir schloß, senkte sich ein Schweigen über die Runde.
    Mike erholte sich schnell; das ist bei ihm immer so. Er nickte, und mit diesem Nicken begrüßte er mich und sagte mir noch etwas. Danach sah er an der Bar entlang, bis er einen freien Platz an ihr fand. Ich nickte zurück, und bis ich die Stelle erreichte, hatte er die Biertrinker und die Anwärter auf die freie Mahlzeit aus dem Weg geräumt. In der Bar sagte niemand einen Ton – sie alle verstanden meine Gefühle ebensogut wie Callahan. Vielleicht fangen Sie jetzt an zu verstehen, wie man dort einem Alkoholikerdasein entgehen kann? Irgend jemand, ich glaube, es war der schnelle Eddie, gab mir mit einem unartikulierten Geräusch sein Mitgefühl zu verstehen, als ich die Lady auf die Bar legte.
    Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist. Ich könnte das herausbekommen. Ich müßte nur an die Leute von Gibson schreiben und sie fragen, wann die Seriennummer 427248 in die Welt hinausgeschickt worden ist, aber das möchte ich irgendwie nicht. Ich schätzte sie auf zwanzig bis dreißig, und weniger als fünfzehn kann sie nicht sein, denn ich lernte sie 1966 kennen. Schon damals war sie aber ein Juwel, und der Mann, dem ich sie abgekauft habe, hat sich selbst scheußlich betrogen. Er wollte viel zu schnell heiraten und brauchte dringend Bargeld. Ich kann nur sagen, daß er hoffentlich eine sagenhafte Frau bekommen hat, denn ich habe eine sagenhafte Gitarre erwischt, soviel steht fest.
     
    Sie ist eine J-45, sonnenaufgangsrot mit einem spezialgefertigten Hals, und sie ist ein deutlicher Vorläufer des großen Gitarrenbooms der sechziger Jahre. Sie ist handgefertigt, keine Maschinenpressung, und mit ihr hat ein vergessener Künstler sein Meisterwerk geliefert. Die allerbeste, absolute Spitzen-Gibson von heute käme an sie nicht heran, und es gibt nur sehr wenige Gitarren, die man heute kaufen könnte, von denen sich das sagen ließe. Seit eineinhalb Jahrzehnten war sie meine zweite Stimme und das grundlegende Werkzeug meines Berufs gewesen. Jetzt waren ihr Hals und mein Herz sauber durchgebrochen.
    Longdrink-McGonnigle, der neben mir saß, sah traurig an mir vorbei auf das erbärmliche Ding, das dort auf der Theke lag. Er berührte eine der verdrehten Saiten. Es rasselte. Ein letztes Rasseln. „Mensch“, murmelte er.
    Callahan drückte mir einen dreifachen Bushmill in die Hand und schloß meine Finger darum. Ich machte daraus einen doppelten, drehte mich um, ging zu dem Kreidestrich auf dem Boden und blieb zwanzig Fuß von dem lustig knisternden Feuer im Kamin entfernt stehen. Alles wartete voller Respekt. Ich nahm noch einen Schluck, während ich mir den Trinkspruch überlegte. Dann hob ich mein Glas, und alle folgten meinem Beispiel.
    „Auf die Lady“, sagte ich, leerte mein Glas und warf es in den Kamin, und dann sagte ich: „Tut mir leid, Leute“, weil es sehr schwierig ist, aus Mikes Kamin Glasscherben herausfliegen zu lassen – er ist wie ein Parabolspiegel mit flachem Brennpunkt konstruiert –, aber ich hatte fest genug geworfen, um trotzdem vier Tische zu erwischen. Ich weiß es besser, und so fest hätte ich nicht werfen sollen.
    Niemand kümmerte sich auch nur im geringsten darum. Wie aus einem Mund antworteten sie: „Auf die Lady“ und tranken, und als das Trommelfeuer zu Ende war, lagen Glasscherben auf acht Tischen.
    Darauf folgte eine Pause. Sie alle warteten ab, ob ich darüber sprechen konnte. Ich war mir völlig sicher, daß sie alle bereit waren, ihre Neugier zu verschlucken und zu ihren Gläsern zurückzukehren. Sie waren bereit dazu, mich zu ignorieren, wenn ich das brauchte, und das ermöglichte es mir zu sprechen.
    „Ich kam aus

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