Anarchy in the UKR
waren; durch löchrig gewordene Reifen drang Regenwasser ein, und überall flogen Schmetterlinge, sie flogen in das Innere der Kabinen, setzten sich auf abgewrackte Milchautos, flogen von Schrottkiste zu Schrottkiste, ich versuchte, sie zu fangen, und rannte von einem plattgepreßten Laster zum nächsten. Ich kletterte in die Fahrerkabinen, die halbwegs überlebt hatten, und betrachtete die Reste dessen, was einmal jemandem gehört hatte – Aufkleber mit zerkratzten Frauengesichtern auf der Tür, Knöpfe auf dem Armaturenbrett, mit rotem Nagellack angemalt, auf dem Lenkrad eingeritzte Initialen, die von wer weiß wem stammten – es konnten die Initialen des früheren Besitzers sein, aber genauso gut die seines Mörders. Stundenlang turnte ich im Unfallschrott herum, bis mein Alter mit einer weiteren Kurbelwelle zurückkam und mich mit der Hupe aus meinem Versteck hervorlockte. Ich ging zurück, na, endlich, sagte ich mißmutig, hat ja ewig gedauert, mein Alter sagte nichts, wir stiegen ein und fuhren weiter. Im erstbesten Ort fing ich an zu nerven, der Alte gab nach und kaufte mir, worum ich ihn bat, meistens kaufte er mir auch so etwas, ohne daß ich nervte, ich sage ja, er hatte seine eigenen Erziehungsmethoden.
In meiner gegenwärtigen Erinnerung an diese Jahre hat sich das Leben rund um die Fernstraßen abgespielt, ich weiß, das entspricht nicht der Realität, und wenn mir damals jemand andere Teile dieses Lebens gezeigt hätte, wären meine Vorstellungen nicht so einseitig, aber ich bekam das gezeigt – ich bin unterwegs groß geworden, auf dem Rücksitz hinter meinem Alten, dort spielte ich meine eigenen Spiele, stopfte alles in mich hinein, was die umliegenden Läden an Eßbarem anboten, dort las ich meine Bücher. Das gefiel mir. Ich mochte es nicht, wenn ein Fremder zu uns ins Auto stieg, ich war ein eifersüchtiges Kind, ich mochte es nicht, wenn jemand anderes mit meinen Eltern plauderte, natürlich mußte ich es dulden, was konnte ich schon machen.
Wir fuhren nach Hause, es war schon spät, wir hielten am Bahnübergang, vor uns ratterte ein Ölzug vorbei, ohne abzubremsen, ich versuchte, die Wagen zu zählen, kam aber immer wieder raus und ärgerte mich, wie viele? fragte mein Alter, vierzig, sagte ich aufs Geratewohl, er nickte ernst.
Ich glaube, daß unsere Art zu sehen, unser Blick auf die Welt sich in der Kindheit hauptsächlich in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit herausbildet, mit der wir uns fortbewegen. Ich zum Beispiel war daran gewöhnt, daß die Landschaften schnell wechseln, so nehme ich sie auch wahr – als etwas, was schnell wechselt und in meinen Augen und damit auch in meinem Gedächtnis seinen Platz findet, meine Geographie hat sich bei einer Geschwindigkeit von achtzig bis neunzig Kilometern pro Stunde herausgebildet, wie oft habe ich aus den Fenstern von Bussen oder zufälligen Lieferwagen die Landschaften angeschaut, na also, sagte ich mir, sie ändern sich immer noch, es kann auch nicht anders sein, du mußt es in deinem Leben schaffen, wenn nicht alle, so doch den Großteil zu sehen, vielleicht ist das auch der Sinn des Lebens, wenn es den überhaupt gibt. Der Blick, den du in der Kindheit ausprägst, saugt alles auf – die morgendlichen Fernstraßen, die von Tieren überquert werden, und die nachmittäglichen Schnellstrecken, Kinder, die etwas zum Kauf anbieten, und die nächtlichen Asphaltflecken, die plötzlich vor dir im Scheinwerferlicht auftauchen, kurz vor dem Ziel, wenn ihr endlich nach Hause kommt und du schon tief und ruhig auf deinem Rücksitz schläfst. Ich denke überhaupt, daß eine von Autoscheinwerfern erhellte, nächtliche Chaussee, die du entlangfährst, mit all ihrer Dunkelheit, die um diese Zeit da ist, mit all den Insekten, die gegen die Frontscheibe fliegen, mit den Bäumen, Vögeln und vorüberziehenden Gespenstern, die im Dunkel stehen und keine Kraft haben, ins Licht zu treten, um sich darin aufzulösen, daß so eine Chaussee das Beste ist, was du in deinem Leben zu sehen bekommst. So ein Gesülze.
Zum letzten Mal habe ich unser Auto ein paar Monate nach dem Unfall gesehen. Es stand auf dem Hof, ich betrachtete es und dachte, interessant, hier drin, in diesem Schrotthaufen, habe ich unzählige Tage verbracht, ich hätte unser Auto am Geruch erkennen können, durch Berühren der Innenverkleidung, am Quietschen der Sitze, und jetzt steht es da, als käme es gerade aus der Kaltpresse, und mir ist, als sei auch ich platt gemacht worden, wenn ich
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