Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
geschehen, aber diesmal wußte Nastja, daß zwischen den Bäumen tatsächlich Menschen waren, und daher auch das Gefühl, daß ihr jemand auf den Rücken starrte.
Woher aber war dieses Gefühl damals gekommen? Wen hatte ihr Auge bemerkt? Wessen Schritte hatte ihr Ohr vernommen? Wer war ihr in der Dunkelheit gefolgt? War es vielleicht der Mann, vor dem Damir sie damals gerettet hatte, als er durch den Park gestürmt war und sie gesucht und gerufen hatte? War er es vielleicht, den Alferow danach gesehen hatte? Hatte Damir vielleicht deshalb aufgehört, sich Sorgen um sie zu machen, und zwar so auffallend, daß er sie nicht einmal mehr spätabends bis zu ihrem Zimmer begleitete? Das heißt, er hatte gewußt, daß keine Gefahr mehr bestand. Dieser unbekannte Mann war gefaßt und verschleppt worden. Oder getötet. Und Alferow hatte das gesehen . . .
Der Lärm herankommender Autos zwang Nastja, sich umzublicken. Punkt zwanzig Uhr. Sie eilte zum Eingang des Schwimmbads.
In der Dunkelheit konnte Nastja das Mädchen nicht richtig betrachten, das aus dem Auto stieg. Als sie aber gemeinsam in der hellerleuchteten Eingangshalle standen, wußte sie, daß sie den Faden zu dem Gespräch gefunden hatte. Da war er, dieser Widerspruch, an den sie sich klammern mußte, um den ganzen Knäuel von vagen Aussagen und Ausflüchten zu entwirren, den Starkow so deutlich gefühlt hatte, ohne etwas machen zu können. Er war ein Mann, dachte Nastja bei sich, und nur einer von hundert, vielleicht auch nur einer von tausend hätte dieses Detail bemerkt.
Im Schwimmbad fragte sie Swetlana genau aus, wer wo gestanden hatte, wer wo hinausgegangen war, welches Auto wo geparkt worden war, mit einem Wort, Nastja verwirrte sie völlig. Von allen Fragen interessierte sie vorläufig nur eine: Wo hatte die Person mit der Videokamera gestanden und in welchem Teil des Schwimmbads war das Mädchen geschwommen? Ihre Vermutung mit der Beobachtung durch das Spiegelfenster bestätigte sich erneut: Swetlana hatte sich an der Stelle geräkelt, die von dem Fenster aus am besten zu überblicken war. Alle übrigen Fragen waren nebensächlich.
Nastja überließ Swetlana der Obhut ihres Begleiters und ging zu Starkow.
»Anatolij Wladimirowitsch, erzählen Sie mir noch mal, was die beiden bei sich hatten, als sie zu Ihnen kamen.«
Starkow dachte kurz nach, dann begann er aufzuzählen:
»Der Liliputaner: Oberbekleidung, eine Geldsumme von sechzehntausend Rubel, Paß, eine Tonbandkassette mit Musikaufnahmen, eine Spritze mit einem Satz Nadeln, eine Ampulle Morphium. Das Mädchen: Oberbekleidung, ein Kleid ohne Taschen, in den Jackentaschen eine Geldsumme von zweihundertdreißigtausend Rubel, ein Taschentuch und ein Lippenstift. Sonst nichts.«
»Sind Sie sich ganz sicher?«
»Absolut. Wir mußten ihr alles mögliche kaufen, bis hin zur Zahnpasta.«
Noch ein Widerspruch, bemerkte Nastja zufrieden, sie wird mit den Brandgeschädigten sprechen.
»Wo ist der Kleine? Ist er mit euch gekommen?«
»Er sitzt im Auto. Man hat ihn nicht ins Schwimmbad gebracht, weil ich dachte, daß Sie ihn hier nicht brauchen.«
»Ich möchte mit. . . Anatolij Wladimirowitsch, was meinen Sie, wer ist bei diesem Pärchen der Chef — und wer der Mitspieler?«
»Wlad ist zweifellos der Chef. Achten Sie nicht darauf, daß er drogenabhängig ist. Er ist viel klüger als das Mädchen. Swetlana ist eine entzückende Göre, schön wie ein Schmetterling und genau so viel Hirn. Wen wollen Sie zuerst sprechen?«
»Das Mädchen. Wo sollen wir sie treffen?«
»Gehen wir, ich zeige es Ihnen.«
Swetlana Kolomiez war überhaupt nicht standfest. Sie hatte, während sie in der bewachten Vorstadtdatscha gesessen hatte, dieses aus der Mode gekommene Kleid völlig vergessen. Hätte sie darin durch die STADT gehen müssen, hätten sie die erstaunten und verächtlichen Blicke der jungen Modepuppen und schrägen Jungs ständig daran erinnert, wie armselig sie gekleidet war. Auf der Datscha dagegen hatten sie nur die Bewacher gesehen, ernste und schweigsame Leute, die nicht tranken, die nicht einmal versuchten, sie anzumachen – und Starkow, der wohl schon über vierzig war und sich in Modefragen überhaupt nicht auskannte. Auf Nastjas direkte Frage dachte sich Swetlana keine bessere Antwort aus, als daß der Brand nachts ausgebrochen war, während sie schlief, weshalb sie, nachdem sie den Pyjama ausgezogen hatte, das Erstbeste aus dem Schrank zog, das ihr in die Hände fiel – es war ja nicht ihre
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