Anastasija 01 - Auf fremdem Terrain
entfernenden Menschen nach, und kaltes Entsetzen durchzog seinen kleinen Körper. Er kannte diese Augen, er hatte sie häufig bei Menschen gesehen, die nicht wie er am Morphium hingen, sondern Halluzinogene einnahmen. Sie hatten, wenn sie high waren, auch diese in sich gekehrten Augen, waren in unglaubliche, unsichtbare Erlebnisse und Abenteuer verstrickt, in ungeheuerliche Gedanken und in Schlußfolgerungen, die sich jeder Logik entzogen. Wlad verachtete diese Menschen und fürchtete sie zugleich. Warum er sie verachtete, wußte er nicht, er fühlte es nur. Aber warum er sie fürchtete, wußte er genau: Sie waren richtige Verrückte, die jeden Moment alles Mögliche anstellen konnten, ohne es überhaupt zu begreifen, die in ihren Visionen bei der Box- oder Karatemeisterschaft antreten oder im mittelalterlichen Frankreich als Henker arbeiten konnten und an irgendeinem Verbrecher das Todesurteil vollstrecken. Der Verrückte weiß nicht, was er tut, und man kann ihn dafür nicht bestrafen, ihn hat schon Gott bestraft, indem er ihm den Verstand genommen hat. Aber hilft das etwa seinem unschuldigen Opfer?
Der Mann ging auf einen dickstämmigen Baum zu und seine Silhouette verschwand. Wlad wurde noch unruhiger. Wo zum Teufel sind die Bewacher? Sogar am hellichten Tag gab es auf der Datscha zwei davon. Und hier war kein einziger zu sehen. Was streunt dieser Typ da herum? Die ungute Ahnung wurde so stark, daß Wlad aus dem Auto springen und mit einem Hilfeschrei ins Schwimmbad laufen wollte.
»Wohin?« drehte sich der Fahrer um. »Wir sollen nicht aussteigen, bis man uns ruft.«
»Ich muß.«
»Auf die Toilette vielleicht?« lachte der Krimi-Fan.
»Nein, nicht auf die Toilette. Hier streicht ein Mann herum, er hat ins Auto geguckt. Mir scheint, er ist verrückt. Da bei dem Baum steht er.«
»Wo?«
Der Fahrer legte das Buch weg, machte das Licht im Wagen aus und schaute in die Richtung, die ihm Wlad gezeigt hatte.
»Ich seh’ nichts. Vielleicht Einbildung?«
»Nein, keine Einbildung, ich hab’ es genau gesehen. Ruf die Bewacher, bitte!«
»Kann ich nicht, Kleiner. Aus dem Auto auszusteigen ist nicht gestattet.«
»Aber ich lauf’ ja nicht fort. Versteh doch, er ist verrückt, er versteckt sich, die Wache sieht ihn nicht, und plötzlich . . . jemand . . .« Wlad brachte das schreckliche Wort nicht über die Lippen.
»Die Wache sieht alles, da brauchst du keine Angst zu haben«, sagte der Fahrer belehrend und schlug sein Buch wieder auf.
* * *
Swetlana ging in Begleitung eines Bewachers von der zweiten Etage in die Eingangshalle hinunter. Bis zur Ausgangstür waren es nur zwei Schritte, als plötzlich eilige Schritte auf der Treppe zu hören waren.
»Witek!«
Der Bewacher drehte sich um, während er Swetlana am Arm festhielt. Auf der Treppenmitte stand Wolodja, der auf der zweiten Etage für Ordnung sorgte, und der Starkow die Bitte Nastjas überbracht hatte, das Mädchen wegzubringen und Wlad zu holen.
»Holst du den Kleinen?« fragte Wolodja.
»Ja. Ich setze das Mädchen ins Auto und dann hol’ ich ihn.«
Als Swetlana das hörte, begriff sie, daß sie jetzt Wlad verhören würden. Er wußte noch nicht, daß sie alles erzählt hatte und würde sich nach wie vor an die Version halten, die sie vereinbart hatten. Natürlich würde diese Frau ihn quälen, und sie würde ihn zwingen, die Wahrheit zu sagen, daran hatte Swetlana keinen Zweifel. Wlad tat ihr leid. Er würde verbissen lügen, um dann die Erniedrigung des enttarnten Betrügers zu erfahren. Sie wußte, daß es nichts Schlimmeres gibt, als wenn man einer Lüge überführt wird, noch dazu von Angesicht zu Angesicht. Sie mußte Wlad warnen, daß er gleich die Wahrheit sagen sollte, das würde ihm helfen, die eigene Würde zu bewahren.
Sie machte vorsichtig einen Schritt in Richtung Tür.
»Hör zu, in dem Auto, in dem der Liliputaner sitzt, liegen meine Zigaretten im Handschuhfach. Kannst du sie mir mitbringen?«
Swetlana machte noch einen Schritt und ergriff die Türklinke.
»Gut«, antwortete Witek, und wandte sich dem Mädchen zu. Er wollte ihr schon folgen, aber Wolodja erhob nochmals die Stimme:
»Aber verwechsele sie nicht, da liegen auch Genas Zigaretten, aber er hat eine blauweiße Schachtel, – meine ist grünweiß. Bring’ sie nicht durcheinander.«
Swetlana rannte auf die Außentreppe, sprang über die zwei Stufen und lief zu dem Auto, in dem Wlad saß. Sie begriff nicht, was für ein Schatten an ihr vorbeihuschte, sie sah nicht
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