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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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drollig. Dmitrij liebte die Arbeit mit Kindern und wäre um keinen Preis bereit gewesen, ältere Schüler zu unterrichten. Er arbeitete bereits seit über zehn Jahren an der Kunstschule, die im letzten Jahr den eindrucksvollen Status einer Kunstakademie erlangt hatte.
    Der Umgang mit Kindern machte ihm großen Spaß, doch heute wich seine gute Stimmung mehr und mehr einem diffusen Unbehagen. Es war Donnerstag, und an den Donnerstagen kam Lisa zu ihm. Ihn erwarteten die ewigen Gespräche über Andrej, Lisas Erinnerungen an ihn, ihre Tränen, und schließlich würden sie Liebe machen, wie jeden Donnerstag, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Alles das würde sehr bedrückend sein, doch hinterher würde es Lisa etwas besser gehen. Nicht viel, aber doch ein kleines bißchen besser. Das war der einzige Trost.
    Auf dem Heimweg kaufte Sotnikow etwas zu essen ein. Lisa würde um acht Uhr erscheinen, und da sie nie mit ihm aß, mußte er es vorher allein tun, um die Zeit mit ihr nicht mit leerem Magen verbringen zu müssen. Außerdem wollte er bis dahin seine Wohnung noch etwas aufräumen.
    Zu Hause angekommen, überblickte Dmitrij freudlos seine heruntergekommene Behausung. Das Junggesellenleben hatte deutliche Spuren in ihr hinterlassen, ob der Blick auf die ungeputzten Fenster fiel oder auf die Kochtöpfe mit den abgebrochenen Griffen. Er bemühte sich nach Kräften, seine Wohnung in Ordnung zu halten, er staubte regelmäßig ab und wischte die Böden, aber zum Fensterputzen reichte es nicht, und schon gar nicht kam ihm der Gedanke, sich neues Kochgeschirr anzuschaffen oder den tropfenden Wasserhahn im Bad reparieren zu lassen.
    Kurz nachdem die alte Uhr an der Wand achtmal geschlagen hatte, läutete es an der Tür. Lisa trug seit neun Jahren nur Schwarz, auch heute bestand ihre Garderobe aus einer schwarzen Hose und einem weiten schwarzen Pullover. Dmitrij gefiel diese ewige Trauerkleidung nicht, zumal er mit dem für Farbe und Form geschulten Auge des Künstlers sah, daß Lisa schwarz überhaupt nicht stand. Sie war etwas breit, aber gut gebaut, mit ihrer sportlichen Figur, ihren dunkelbraunen Haaren und grauen Augen hätte sie eine vor Lebenslust sprühende junge Frau sein können, zu ihrem Typ hätten hervorragend weiße Jeans und ein buntes, fröhliches T-Shirt gepaßt. Statt dessen trug Lisa hartnäckig Trauer, sie lächelte selten, das Leiden schien sich für immer in ihr Gesicht eingegraben zu haben.
    »Wie hast du den Tag verbracht?« fragte Dmitrij, während er Lisas Jacke an die Garderobe hängte.
    »Wie immer. Ich war auf dem Friedhof, habe den Grabstein abgewaschen und Blumen hingestellt.«
    »Wann fängst du an zu arbeiten?«
    »Wahrscheinlich in einer Woche. Mal sehen, ich weiß noch nicht genau.«
    »Und was sagt der Arzt?«
    »Was soll er schon Gescheites sagen, dieser Arzt!« gab Lisa geringschätzig zurück. »Er wird genau das sagen, was ich will. Mal sehen«, wiederholte sie, »wenn mir nach Arbeit ist, lasse ich mich gesundschreiben.«
    Vor neun Jahren hatte Lisa mitangesehen, wie ihr jüngerer Bruder von vier Jugendlichen erschlagen wurde. Nach dem schweren Schock, den sie damals erlitten hatte, geriet sie immer wieder in psychische Krisen, die sie zu Klinikaufenthalten zwangen. Der Entlassung folgten jedes Mal lange Phasen, in denen sie krankgeschrieben blieb.
    »Weißt du was«, sagte sie plötzlich lebhaft, nachdem sie es sich in dem tiefen Sessel bequem gemacht hatte, den Dmitrij zusammen mit der antiken Wanduhr von seiner Urgroßmutter geerbt hatte, »Andrjuscha haben die blauen Chrysanthemen gefallen, die ich ihm letztes Mal gebracht habe. Wenn er die Blumen mag, dann bleiben sie länger frisch, das fällt mir schon seit langem auf. Heute habe ich ihm wieder dieselben gebracht. Was meinst du, gefallen ihm die Chrysanthemen als solche, oder ist es ihre blaue Farbe?«
    Es geht also schon wieder los, dachte Sotnikow resigniert. Es ist sinnlos, ihr zu erklären, daß Andrjuscha nichts mehr gefallen kann, weil er seit neun Jahren nicht mehr lebt. Lisa will das nicht zur Kenntnis nehmen, in ihrer Ohnmacht gegenüber der Realität seines Todes hat sie sich in die nebelhafte religiöse Idee von der Unsterblichkeit der Seele verrannt. Mindestens einmal die Woche geht sie zum Friedhof, jeden Tag staubt sie in Andrjuschas Zimmer ab, so als sei er nur zur Schule gegangen und würde in zwei Stunden wiederkommen. Seine Seele ist unter uns, behauptet sie, er sieht und hört alles, wir müssen uns so

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