Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
jener typischen Fallen gegangen, die uns das Mitgefühl stellt. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als zu dulden. Lisa tat ihm aufrichtig leid, und er selbst kam sich kalt und herzlos vor, weil er sich nicht zwingen konnte, mit derselben Intensität unter Andrjuschas Tod zu leiden wie sie.
Sie begannen miteinander zu schlafen, als Lisa bereits zwanzig Jahre alt war. Dmitrij empfand nichts dabei, aber Lisa schien ein wenig aufzuleben, wenigstens für kurze Zeit aus der Trauer aufzutauchen, in die sie sich verpuppt hatte. Und Dmitrij Sotnikow sagte sich, daß er, wenn er etwas für sie tun konnte, es auch tun mußte, ungeachtet der anderen Frauen, in die er sich verliebte und mit denen er schlief. Wenn es eine Illusion gab, die Lisa helfen konnte, den Schmerz zu bewältigen, dann hatte er nicht das Recht, diese Illusion zu zerstören. Wenn ihre Liebe zu ihm ihr einen Rückhalt gab, dann durfte er sie nicht um diesen Rückhalt bringen. Diesen Entschluß faßte Dmitrij freilich zu einer Zeit, als er nach dem Scheitern einer kurzzeitigen Ehe sicher war, daß er im Lauf der nächsten drei, vier Jahre sowieso nicht wieder heiraten würde. Wie er sich Lisa gegenüber verhalten würde, falls die Situation sich ändern sollte, wußte er nicht. Der Gedanke, Lisa einen Heiratsantrag zu machen, kam ihm niemals in den Sinn. Er mochte sie sehr gern und war sogar in der Lage, das einmal die Woche im Bett zu beweisen. Aber er liebte sie nicht.
3
Es war kurz vor sechs, Nastja wartete auf ihren Kollegen Lesnikow. Sollte er innerhalb der nächsten zehn Minuten nicht auftauchen, würde sie mit der Metro zum »Orion« fahren müssen.
Sie erinnerte sich nicht, wann es zuletzt vorgekommen war, daß sie bereits um sechs Uhr ihr Büro verlassen hatte. Gewöhnlich brütete sie bis lange nach Arbeitsschluß über den ihr vorgelegten Fällen, sie sammelte Fakten, zeichnete geheimnisvolle Skizzen, machte die unglaublichsten Kombinationen und überlegte sich die schlauesten und originellsten Methoden zur Überprüfung ihrer Schlußfolgerungen. Einmal war sie sogar gezwungen, zur Aufklärung einer Mordserie einige französische und italienische Thriller zu lesen. In der ersten Zeit zuckten Nastjas Kollegen mit den Schultern und grinsten, als ihr Chef, Viktor Alexejewitsch Gordejew, von seinen Untergebenen liebevoll Knüppelchen genannt, verkündete, er habe eine neue Mitarbeiterin eingestellt, die von nun an die Auswertungsarbeit betreiben würde. Sie sahen wenig Sinn in so einem Unterfangen und gingen davon aus, daß ihr Chef sich einfach eine Phantasiestelle für die Tochter eines Freundes ausgedacht hatte, für irgendein junges grünes Ding, das keine Ahnung von praktischer Ermittlungsarbeit hatte und deshalb mit diesen mysteriösen Fallanalysen betraut wurde. Das erschien auch deshalb naheliegend, weil Nastjas Stiefvater, Leonid Petrowitsch, ein Vierteljahrhundert bei der Kripo gearbeitet hatte und ein guter Freund des Chefs war.
Das war schon fast zehn Jahre her. Damals hatte einige Zeit verstreichen müssen, bis in der Abteilung zur Bekämpfung schwerer Gewaltverbrechen die bösen Witze über die neue Mitarbeiterin allmählich verstummten. Nastja arbeitete für alle in der Abteilung, erfüllte jede Bitte, jeden Auftrag. Man konnte zu ihr kommen und sagen: Die Kombination, die ich gemacht habe, geht nicht auf. Hier und hier stimmt etwas nicht. Darauf schloß sich die Kamenskaja in ihrem Büro ein, holte ihre berühmten Arbeitsblätter aus der Schublade, malte rätselhafte Pfeile und Kringel aufs Papier, und nach zwei Stunden lieferte sie die schlüssige Begründung dafür, warum die Kombination nicht funktionierte. Sie verfügte über ein präzises, mathematisches Denken, es gab für sie nichts, was es nicht gab. Sie zog alle Versionen und Möglichkeiten in Betracht, so unwahrscheinlich diese auf den ersten Blick auch erscheinen mochten, sie verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Fakten und stellte sie in Kombinationen dar, die den Fall gelegentlich in einem völlig neuen Licht erscheinen ließen.
Heute wollte Nastja das Versprechen erfüllen, das sie ihrem Halbbruder gegeben hatte, und dieser seltsamen Dascha Sundijewa auf den Zahn fühlen. Zu diesem Zweck erschien es ihr angebracht, in einem teuren Auto vorzufahren. Deshalb wartete sie ungeduldig auf ihren Kollegen Igor Lesnikow, der einen funkelnden BMW fuhr. Sie hatte ihn bereits am Morgen um diesen Dienst gebeten, und der immer strenge, ernste Lesnikow hatte nur
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